„Geht Chinas Wirtschaftsleistung zurück, werden die Preise noch stärker steigen“

Für Harvard-Professor Kenneth S. Rogoff ist der Ukraine-Krieg ein Weckruf, was Energiepolitik, Inflation und Haushaltsdisziplin angeht. In Chinas gescheiterter Null-COVID-Politik sieht der Ökonom ein weiteres Risiko für die Weltwirtschaft. Und das globale Klimaproblem? Hier ist aus seiner Sicht der Westen als ursprünglicher CO2-Verursacher gefragt, Asien mit Hilfen zur Seite zu stehen.

Mit Kenneth S. Rogoff sprach Ina Lockhart

leitwolf: Mr. Rogoff, gerade noch gab es die Hoffnung, dass wir langsam aus dem Corona-Notfallmodus herauskommen. Doch dann hat Russland mit unvorstellbarer Brutalität die Ukraine angegriffen. Wie wird sich der Krieg auf die Weltwirtschaft, die Geldpolitik und den Welthandel auswirken?

Kenneth S. Rogoff: Der Ukraine-Krieg stellt bestehende Verhältnisse und Systeme massiv infrage. Natürlich herrscht große Unsicherheit darüber, wie sich die Dinge entwickeln werden. Auf kurze Sicht hat der Krieg zahlreiche Probleme wie etwa Lieferengpässe und Inflationsdruck verschlimmert. Die Zentralbanken halten daran fest, dass die Inflation nur ein vorübergehendes Phänomen ist. Sie wollen sie mit relativ geringen Zinserhöhungen in Schach halten. Dies scheint begründet, solange Inflationserwartungen keine Rolle spielen.

leitwolf: Wird das weiterhin so sein?

Kenneth S. Rogoff: Nicht wenn es zu einem neuen Schock kommt. Beispielsweise wenn Chinas Wirtschaftsproduktion deutlich zurückgeht als Folge der gescheiterten Null-COVID-Politik. Bislang hat die Welt davon nur einen Vorgeschmack bekommen, denn China hat es trotz flächendeckender Lockdowns geschafft, die Wirtschaftsproduktion weitgehend aufrechtzuerhalten. Doch das wird nicht so bleiben. Geht Chinas Wirtschaftsleistung deutlich zurück, werden die Preise noch stärker steigen. Die Zentralbanken werden dann vor noch größeren Herausforderungen stehen. Die Lage kann sich weiter verschlimmern, wenn der Krieg in der Ukraine eskaliert und China weiterhin Russland zur Seite steht. Chinas Wirtschaft ist zehnmal so groß wie die von Russland und sie spielt im Welthandel eine viel wichtigere Rolle.

leitwolf: Wird China Russland helfen, die Wirtschaftssanktionen des Westens zu überdauern – beispielsweise, indem es eine Alternative zum internationalen Zahlungssystem SWIFT entwickelt?

Kenneth S. Rogoff: Nichts geschieht über Nacht. China bräuchte sicherlich 10 bis 15 Jahre, um ein alternatives internationales Zahlungssystem zu entwickeln. Überraschenderweise hat sich Russlands System zur Abwicklung inländischer Zahlungen als sehr robust herausgestellt. China verfügt ebenfalls über ein sehr gutes inländisches Zahlungssystem. Doch für den internationalen Handel müssten beide Länder ein System entwickeln, das mit dem Vertrauensverlust umgeht. Vielleicht bieten hier die durch Kryptowährungen eröffneten Neuerungen eine Lösung. Ich bin mir sicher, dass die Chinesen ihre Optionen genau prüfen. Nichts davon wird schnell gehen. Doch auf jeden Fall viel schneller, als wir es vor Russlands Invasion in die Ukraine noch für möglich gehalten haben.

leitwolf: Angenommen, Russland und China wären weitgehend vom Welthandel ausgeschlossen, würde das neue Chancen für Schwellenländer eröffnen?

Kenneth S. Rogoff: Auf jeden Fall. Vor allem für Länder in Asien wie Vietnam, sofern sie unabhängig von China bleiben. Ich erwarte jedoch eher, dass die Automatisierung einen großen Teil der Lücke füllen wird, die die Deglobalisierung – ausgelöst durch einen zweiten Kalten Krieg – gerissen hat.

leitwolf: Der Westen, vor allem Europa, muss seine Militärausgaben deutlich erhöhen. Und das, kurz nachdem Milliarden für Notfallhilfen in den zwei Jahren der Corona-Pandemie ausgegeben wurden. Wie wird sich die Staatsverschuldung entwickeln?

Kenneth S. Rogoff: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Europa und die USA ihre Militärbudgets deutlich aufstocken werden. Nicht nur wegen Russland, sondern auch wegen China und dem Nahen Osten. Ich würde die Prognose wagen, dass eine Erhöhung um ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts eher eine vorsichtige Schätzung wäre. Eine solche Erhöhung wird natürlich Konsequenzen für Steuern und Sozialausgaben haben. Doch viel wichtiger ist die Tatsache, dass uns der Ukraine-Krieg daran erinnert, dass einzelne Volkswirtschaften – insbesondere, was ihre Schuldenpolitik angeht – widerstandsfähig sein müssen. Volkswirte in den USA und der Internationale Währungsfonds haben eine Philosophie des maximalen Stimulus verfolgt. Getreu dem Motto: Je größer die Haushaltsdefizite und je niedriger die Zinsen, desto besser. Jetzt sollten wir den Weckruf hören: Auch in der gesamtwirtschaftlichen Steuerung müssen Volkswirtschaften einen Plan für mehr Resilienz haben.

leitwolf: Steuern wir auf eine Energiekrise zu, die mit der in den 1970er-Jahren vergleichbar wäre?

Kenneth S. Rogoff: Mit Blick auf die aktuelle Energiepolitik stand immer die Frage im Raum, ob die Strategien für den Übergang hin zu klimafreundlicheren Energiequellen realistisch sind. Auch wurde diskutiert, inwieweit Kernenergie dabei eine Rolle spielen muss und einen kleinen Beitrag leistet, wie etwa für den Antrieb von U-Booten und Schiffen. Der Krieg hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass unsere Energiepolitik unabhängiger und weniger anfällig für externe Störungen werden muss.

„Der Ukraine-Krieg erinnert uns daran, dass Volkswirtschaften widerstandsfähig sein müssen.“

Seit 1999 lehrt Kenneth S. Rogoff als Professor für Ökonomie an der Harvard-Universität. Von 2001 bis 2003 war er Chefökonom des IWF. Zusammen mit Carmen Reinhart hat er in dem 2009 ver­öffentlichten und viel zitierten Buch mit dem Titel „Dieses Mal ist alles anders“ Finanzkrisen der vergangenen 800 Jahre in verschiedenen Ländern quantitativ auf Ähnlichkeiten untersucht. Während seines Studiums in Yale zählte James Tobin, der spätere Nobelpreisgewinner, zu seinen Lehrern. Der 69 Jahre alte ­Ökonom ist Großmeister im Schach.

leitwolf: Bevor Russland seinen brutalen Krieg gegen die Ukraine eröffnet hat, stand der Klimawandel auf der globalen Agenda ganz weit oben. In der Diskussion hat die EU die Idee aufgebracht, eine CO2-Abgabe auf Einfuhren zu erheben. Wäre das prinzipiell ein richtiger Schritt?

Kenneth S. Rogoff: Anfangs war ich skeptisch, ob so eine Abgabe überhaupt praktikabel ist. Aber inzwischen glaube ich, dass sie von allen Optionen die beste ist. Natürlich werden ­andere Länder wie etwa China diese Maß­nahme als Handelskrieg betrachten, doch könnten CO2-Zölle funktionieren, wenn sie in sich stimmig und gut durchdacht sind. Ansonsten wüsste ich nicht, was wir noch tun könnten.

leitwolf: Denken Sie, dass ein System nach dem Verursacherprinzip ausreicht?

Kenneth S. Rogoff: Auch wenn der Klimawandel ein ­globales Problem ist und Asien maßgeblich für den aktuellen CO2-Anstieg verantwortlich ist, müssen wir uns eingestehen, dass die Vereinigten Staaten und Europa das eigentliche Problem verursacht haben. Im Vergleich zu anderen Ländern haben die Vereinigten Staaten über die Jahre betrachtet einen viel größeren CO2-Fußabdruck hinterlassen. Über zwei Jahrhunderte war es den USA – und nicht den Ländern in Asien – möglich, fossile Brennstoffe großzügig und sorglos zu nutzen. Folglich sind wir jetzt an der Reihe zu helfen.

leitwolf: Wie könnte diese Hilfe Teil eines weltweiten Green New Deals werden?

Kenneth S. Rogoff: Wir brauchen eine neue Institution, eine globale CO2-Bank, die für beides verantwortlich ist – für Finanzhilfen, aber auch für technischen Wissenstransfer. Wir brauchen eine Strategie, mit der Länder über eigene Grenzen hinausschauen und nicht nur auf sich fokussiert sind. Die Vereinigten Staaten und Europa müssen hier als Beispiel vorangehen. Die Peitsche, also CO2-Zölle, funktioniert nur in Kombination mit einem großzügigen Zuckerbrot. Und das ist nichts anderes als unsere Akzeptanz für die Energieprobleme in Asien, wo jede Woche ein neues Kohlekraftwerk gebaut wird.

leitwolf: Herr Rogoff, vielen Dank für das Gespräch!

Der Großmeister

In seinen zwei letzten Highschool-Jahren folgt Rogoff seiner Leidenschaft für Schach, zieht wegen des großen Angebots an Schachturnieren nach Europa und verbringt mehr Zeit am Schachbrett als in der Schule. Er lebt allein – vornehmlich im damaligen Jugoslawien – und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit seinen Preisgeldern. Später, als er sich in Yale bewirbt, hat er das Glück, dass die Universität die vielen Lücken in seinem Highschool-Zeugnis großzügig ignoriert und Rogoff zum Studium zulässt. Er beschreibt sich selbst als „dem Schach verfallen“, auch wenn er nicht mehr aktiv spielt. Als Anlageberater für Kryptowährungen würde seine Tochter ihn wohl nicht empfehlen. Als sie 13 Jahre alt und stolze Besitzerin von 25 Bitcoins ist, fragt sie ihren Vater, ob sie die Kryptowährung als vielversprechende Geldanlage behalten solle. Er sagt nein und sie verkauft ihre Bitcoins, die sich in den Jahren danach im Wert vervielfachen sollten. In Harvard zu unterrichten und dort von „klugen, neugierigen“ jungen Menschen umgeben zu sein bezeichnet Rogoff als ein „unglaubliches Privileg“.

Inhalt Ausgabe 008