INVEST ALPHA
Jenseits des demografischen Sweetspots
Professorin Dr. C. Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), und Dr. Götz Albert, Managing Partner bei Lupus alpha, sprechen über alternde Gesellschaften und den positiven Impact von Bildung und Innovation.
Redaktion Kirsten Kücherer
leitwolf: Welche Daten erhebt bzw. nutzt die Demografieforschung?
Prof. Spieß: Als Bevölkerungsforscher und -forscherinnen gehen wir evidenzbasiert vor. Meistens arbeiten wir mit großen, repräsentativen Mikrodatensätzen. Damit wollen wir die Bevölkerungsentwicklung und -struktur erklären, aber wir wollen auch die Verhaltensweisen bestimmter Gruppen und einzelner Menschen auf individueller Ebene analysieren. Ein für uns wichtiger Datensatz ist beispielsweise der jährlich erhobene Mikrozensus der amtlichen Statistik; daneben haben wir auch eigene Surveys, wie zum Beispiel das familiendemografische Panel (FReDA). Vielfach kombinieren wir auch Datensätze aus unterschiedlichen Quellen.
leitwolf: Was sind typische Fragestellungen im Rahmen Ihrer Arbeit?
Prof. Spieß: Wir analysieren Veränderungen in der Bevölkerung, ganz klassisch Geburten, Migration, Bildung und Mortalität. Aber es gehören darüber hinaus viele andere Fragestellungen dazu: So untersuchen wir auch subjektive Indikatoren, wie beispielsweise das Wohlbefinden der Bevölkerung oder die Wirkung möglicher Zukunftsängste auf die Familiengründung. Wir haben uns intensiv mit der Corona-Pandemie und deren Folgen befasst und untersuchen derzeit, wie es den nach Deutschland geflüchteten Menschen aus der Ukraine bei uns geht. Dazu haben wir eine eigene Umfrage am Institut. Eine unserer Forschungsgruppen befasst sich zudem mit der Weltbevölkerung und vertritt Deutschland bei der UN Population Division.
Prof. Dr. C. Katharina Spieß
leitwolf: Auch wenn Zuwanderung diese Entwicklung bremst – Deutschland altert. Wie wirkt sich das auf Unternehmen aus?
Dr. Albert: Der Fachkräftemangel ist mitten im Alltag angekommen. Schon lange hatte die Wissenschaft auf diese Entwicklung hingewiesen. Für uns Babyboomer setzt sich fort, was schon unser gesamtes Leben geprägt hat: Erst streiten wir uns um die wenigen Studienplätze, die wenigen Wohnungen, die wenigen Arbeitsplätze und dann am Ende um die wenigen Pflegeplätze. Um hier langfristig gegenzusteuern, ist eine nachhaltige präventive Demografiepolitik notwendig. Aber ich sehe, dass in der Praxis schon jetzt wirksam Änderungen angestoßen werden: So versuchen Unternehmen, die Erfahrungen der Älteren im Betrieb zu halten, unter anderem durch mehr Flexibilisierung, beispielsweise bei der Arbeitszeit. Auch in Sachen Fachkräftemigration und Integration sind Unternehmen aus unserer Sicht gesellschaftlich gesehen mittlerweile Vorreiter. An einer höheren Müttererwerbstätigkeit mit Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeitet gerade der Finanzsektor ganz gezielt.
Jenseits des demografischen Sweetspots
Professorin Dr. C. Katharina Spieß im Gespräch mit Dr. Götz Albert
leitwolf: Worin sehen Sie einen wichtigen Hebel für Deutschland?
Prof. Spieß: Wenn wir über Fachkräfte reden, müssen wir neben der bloßen Erwerbsquote bestimmter Bevölkerungsgruppen auch über das Erwerbsvolumen sprechen: Wir sind in Bezug auf Frauen bei der Teilzeitarbeit in der Top-Gruppe. Frauen in Deutschland verbleiben häufig in der Teilzeitfalle – auch dann, wenn Kinder aus dem Haus sind. Hier fehlt es in der Breite an Anreizen, dies zu ändern – seitens der Unternehmen und auch seitens des Staates, Stichwort Ehegattensplitting oder Minijobs.
leitwolf: Wie sieht es aus globalem Blickwinkel aus – welche Regionen haben günstigere demografische Ausgangssituationen?
Prof. Spieß: Es kommt in einer Volkswirtschaft nicht nur darauf an, wie viele Menschen dort leben, sondern wie produktiv sie sind. Das heißt, es kommt eben auch auf die Bildung der Bevölkerung an. Produktivität hängt nicht nur damit zusammen, wie viele Mitarbeiter ich habe, sondern über welche Fähigkeiten diese verfügen. Eine weitere große Stellschraube ist die Gesundheit: Wie gesund sind die Menschen, die in einer Volkswirtschaft leben? Wie erhalten wir ihre Erwerbsfähigkeit über das gesamte Erwerbsleben? In einer alternden Gesellschaft kommt es auf jeden Einzelnen an und zwar von Anfang an. Als alternde Volkswirtschaft können wir es uns schlichtweg nicht erlauben, dass Menschen in unserem Land keinen Schulabschluss haben oder nicht früh gefördert werden. Das gilt für ganz Europa. Auch andere westliche Industrienationen wie die USA oder auch Indien, China und Südkorea altern, nur Subsahara-Afrika tut dies nicht. Dort steigen die Geburtenraten nach wie vor, aber dieser starke Anstieg wird – so die Prognosen – mit zunehmender Bildung insbesondere der Frauen abnehmen.

Prof. Dr. C. Katharina Spieß ist Universitätsprofessorin für Bevölkerungsökonomie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden.

Dr. Götz Albert, CFA, ist Managing Partner, CIO, und verantwortlich für den Bereich Portfolio Management bei Lupus alpha.
leitwolf: Gibt es Länder, die von ihrer demografischen Struktur auch wirtschaftlich profitieren?
Prof. Spieß: Man spricht von der demografischen Dividende, dem möglichen wirtschaftlichen Nutzen, der sich durch abnehmende Kinderzahlen erzielen lässt, wenn diese davor hoch waren. Das sind Phasen, in denen die starken Geburtenjahrgänge im Arbeitsmarkt aktiv sind, aber es kommen weniger Menschen nach. Als Beispiel wird hier gern der wirtschaftliche Erfolg der in Südostasien aufstrebenden Tigerstaaten angeführt: Dort war es so, dass sich Kinderzahlen reduziert haben und der Schwerpunkt der Bevölkerung sich von den jungen Jahrgängen hin zu den Erwerbsfähigen und Erwerbstätigen verschoben hat. Dadurch standen der Wirtschaft dort überproportional viele Menschen zur Verfügung, die arbeiten und produktiv sein konnten, während es gleichzeitig weniger Kinder und wenige ältere Menschen zu versorgen gab.
leitwolf: Welchen Herausforderungen müssen sich alternde Gesellschaften stellen, um Stabilität und sozialen Frieden im Innern und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext zu wahren?
Dr. Albert: Bildung ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir müssen die Menschen, die von unten in der Alterspyramide nachkommen, mit reichlich Bildungsinvestitionen ausstatten. Das ist auch möglich, weil die Babyboomer über das entsprechende Vermögen verfügen, das nicht nur für Konsum ausgegeben, sondern auch in die Bildung der Kinder investiert wird.
Prof. Spieß: Im Sinne einer nachhaltigen Demografiepolitik ist es wichtig, früh in Bildung zu investieren. Bildungsökonomische Studien zeigen, dass jeder investierte Euro im frühkindlichen Alter besser angelegt ist als zu einem späteren Zeitpunkt. Der Zinseszinseffekt bzw. die Rendite eines sehr früh investierten Bildungseuro ist extrem hoch, insbesondere wenn benachteiligte Kinder gefördert werden. Ein Bildungsfonds wäre beispielsweise eine Idee, um die notwendigen Investitionen in Bildungssysteme zu finanzieren.
leitwolf: Welchen Einfluss haben demografische Kenngrößen auf den Klimawandel und seine Folgen?
Dr. Albert: Die Klimaprobleme, die wir heute haben, werden wir nicht lösen können, indem wir an die stark wachsenden Volkswirtschaften appellieren, sich doch bitte anders zu verhalten, als wir es in den letzten Jahrzehnten getan haben. Innovationen, der technologische Fortschritt, sind für mich die große Klammer zwischen Demografie und Klimawandel. Technologischer Wandel stellt – neben der Bildung, die es auch für Innovationen braucht – in diesen beiden Problembereichen die große Lösung bereit. Wenn ich mir unsere über 1.000 investierbaren europäischen Small & Mid Caps-Unternehmen ansehe: Dort finden Prozess- und Produktinnovationen statt, und zwar jeden Tag. Sehr viele Unternehmen arbeiten derzeit an Produkten und Lösungen, um die Herausforderung des Klimawandels zu bewältigen. Und sie tun dies, weil sie glauben, das ist ein gutes Geschäftsmodell, das hat Potenzial, ermöglicht Wachstum und generiert Gewinne – all dies ist ein Lichtblick für mich!
Frau Professor Spieß, Herr Dr. Albert, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Fotos/Illustrationen: Peter-Paul Weiler, Annika List