Volatilität – was passiert im Gehirn?

Professorin Kerstin Preuschoff von der Universität Genf und Alexander Raviol, CIO Alternative Solutions und Partner bei Lupus alpha, sprechen über rationales und irrationales Verhalten und was unser Gehirn aus dem Umgang mit Risiko, Krisen und Volatilität lernt.

Redaktion Kirsten Kücherer

leitwolf: Worin unterscheidet sich das ­Modell des Homo Oeconomicus von der Art und Weise, wie wir als Homo Sapiens ­tatsächlich entscheiden?

Prof. Preuschoff: Das normative Modell des Homo Oeconomicus ist eine vereinfachte Darstellung von Präferenzen und Entscheidungen. In erster Linie beschreibt es, wie sich Menschen in bestimmten Situationen und unter bestimmten Annahmen verhalten sollten. Die Grundprämisse dabei ist: Wir entscheiden rational, sofern wir unsere individuelle Nutzenfunktion maximieren.
Der Homo Sapiens dagegen ist ein soziales Wesen, das ist in unserer Biologie verankert. Im Unterschied zum klassischen Modell des Homo Oeconomicus weist er eine hohe Anpassungsfähigkeit auf, denn seine Präferenzen können sich ständig ändern. Häufig wird angenommen, dass der Homo Sapiens kein rationaler Entscheider sei – was ich aber nicht so stehen lassen möchte, denn: Vieles, was im ersten Moment irrational aussieht, ist es nicht. Wir sind oft nur bereit, weitere Aspekte jenseits zum Beispiel der Maximierung von monetären Werten in unserer Nutzenfunktion zu berücksichtigen.

leitwolf: Welche Methoden wendet die ­empirische Verhaltensforschung an, um dem tatsächlichen Entscheidungsverhalten von Menschen auf die Spur zu kommen?

Prof. Preuschoff: Wir beobachten, was tatsächlich geschieht, wenn Menschen Entscheidungen treffen. Schließlich beeinflussen auch Emotionen unser Entscheidungsverhalten. Zusätzlich führen wir Befragungen durch und wir messen einfache physiologische Signale wie die Herzrate oder den Status bestimmter Hormone. In der Neurofinance erfassen wir zudem, was im Gehirn passiert: zum Beispiel mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT). Damit können wir erkennen, welche Gehirnareale aktiv sind, wenn bestimmte Entscheidungen gefällt werden.

„Wir können erkennen, welche Gehirnareale aktiv sind, wenn bestimmte Entscheidungen gefällt werden.“

leitwolf: Wie läuft das konkret ab?

Prof. Preuschoff: Ein Proband liegt im MRT, spielt ein Spiel oder trifft eine finanzielle Entscheidung. Dabei analysieren wir, was im Gehirn passiert, wenn er risikobehaftete Entscheidungen trifft, wenn er Gewinne einfährt oder Verluste erleidet. So wissen wir unter anderem, dass subkortikale Hirnareale auf Belohnungen und Verluste reagieren und dass die sogenannte anteriore Insula auf Risiko und Veränderungen im Risiko eine Wirkung zeigt. Beides sind evolutionär uralte Teile des Gehirns.

leitwolf: Herr Raviol, Sie beobachten anhand von Finanzmarktdaten aus drei Jahrzehnten, dass die implizite Volatilität die realisierte Volatilität übertrifft. Was bedeutet das?

Alexander Raviol: Ein preisbestimmendes Element einer Option ist die erwartete Volatilität über den gesamten Zeitraum bis zum Ende der Laufzeit der Option. Bei Fälligkeit lässt sich dann zurückblicken auf die historische Volatilität. Die sogenannte Volatilitäts-Risikoprämie berechnet sich als Differenz aus der impliziten, also der vorab erwarteten Volatilität und den später tatsächlich realisierten Schwankungen.
Diese Differenz ist seit Jahrzehnten durchschnittlich positiv: Über 4 Prozent beträgt sie zum Beispiel an US-amerikanischen und europäischen Aktienmärkten.

leitwolf: Investoren sind also bereit, eine Prämie zur Absicherung gegen den Einfluss der Volatilität auf ihr Portfolio zu zahlen, die in der Summe höher ist als die tatsächlich eintretenden „Schäden“ durch die Schwankungen?

Alexander Raviol: Dass im Durchschnitt weniger Volatilität eintritt, als vorher erwartet wurde, hängt mit der Neigung der Marktteilnehmer zusammen, die künftige Volatilität zu überschätzen. Das kann man sich zunutze machen, wenn man bereit ist, mittels Verkauf von Optionen das Volatilitätsrisiko anderer Marktteilnehmer zu übernehmen. Der Grundgedanke gleicht dem einer Versicherung. Die Summe der im Mittel dafür vereinnahmten Prämien fällt höher aus als die Summe der Auszahlungen im Schadensfall. Belegen lassen sich zudem Phasen ganz besonders attraktiver Volatilitäts-Risikoprämien nach dem Platzen der Dotcom-Blase, nach der globalen Finanzkrise und der Corona-Pandemie. Anhand der Daten zeigt sich also auch, dass die Bereitschaft, mehr für die Absicherung gegen Volatilität zu zahlen, höher ist, wenn zuvor ein Schadensereignis eingetreten ist.

„Die Bereitschaft, mehr für die Absicherung gegen Volatilität zu zahlen, ist höher, wenn zuvor ein Schadensereignis eingetreten ist.“

Prof. Kerstin Preuschoff ist außerordentliche Professorin für Neurofinanz und Neuroökonomie am Finance Research Institute (GFRI) & Interfaculty ­Center for Affective Sciences (CISA) der Universität Genf. Zuvor arbeitete sie als Forscherin und Dozentin am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich und am Brain Mind Institute der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne.

Alexander Raviol ist Partner und CIO Alternative Solutions bei Lupus alpha. Umfassende Kapitalmarkterfahrung sammelte der Diplom-Physiker u. a. im Asset Management der Dresdner Bank, als Portfolio Manager bei UBS und der HSH Nordbank AG. 2006 wechselte er als Leiter Quality & Risk Management zu Lupus alpha, wo er zunächst für die Produktentwicklung alternativer Anlagestrategien verantwortlich war.

leitwolf: Ist das rational? Oder handelt es sich dabei um eine Anomalie?

Alexander Raviol: Unserer Interpretation zufolge ist das keine Anomalie, sondern aus rationaler Überlegung heraus gerechtfertigtes Handeln. Es handelt sich dabei also eher um eine Art Versicherungsprämie. Es rückt vor allem nach Krisen stärker ins Bewusstsein, was am Markt passieren kann. In der Folge steigt das Bedürfnis und damit die Nachfrage nach Absicherung. Daher ist man bereit, höhere Prämien zu zahlen. Gebranntes Kind scheut eben das Feuer.

leitwolf: Frau Prof. Preuschoff, sehen Sie das genauso?

Prof. Preuschoff: Ja, aber da geht es nun um Feinheiten der Definitionen von Rationalität. Das Modell des Homo Oeconomicus ist sehr flexibel, es beinhaltet – je nachdem, wie die Nutzenfunktion definiert ist – auch Faktoren wie Risiko- und Volatilitätsaversion und insbesondere auch die individuellen Präferenzen zu diesen Faktoren. Meidet also ein Entscheider beispielsweise Risiken, ist das Teil seiner Nutzenfunktion, und er ist bereit, dafür zu bezahlen, weniger Risiko tragen zu müssen. Das kann vollkommen rational sein. Schließlich besteht eine grundlegende Asymmetrie darin, dass man nur begrenzte Verlustrisiken tragen kann, sich aber über unbegrenzte Gewinne immer freuen würde. Irrationales Handeln würde im Vergleich dazu bedeuten, entgegen dem Maximieren der eigenen Nutzenfunktion zu handeln.

leitwolf: Und was ist mit dem von Herrn Raviol beobachteten überdurchschnittlichen Prämienanstiegen nach Krisen? Was „lernt“ das Gehirn grundsätzlich aus der Erfahrung mit dem Umgang mit Risiken?

Prof. Preuschoff: Wir Menschen lernen ständig – bewusst und unbewusst – und dabei legt das Gehirn tendenziell mehr Wert auf Daten aus der näheren Vergangenheit. Ältere Daten werden mit der Zeit immer weniger gewichtet. Das, was zuletzt gewirkt hat, hat den größten Einfluss: der sogenannte Recency-Effekt. Haben wir gerade einen großen Schaden erlebt, zum Beispiel eine der von Herrn Raviol genannten Krisen, sind wir erst einmal risikoavers oder möchten Volatilität vermeiden bzw. uns davor absichern.

Frau Professor Preuschoff, Herr Raviol, wir danken Ihnen für das Gespräch!

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