„Es sind die Zentralbanken, die die Höhe der Inflation bestimmen“

Für Fragen rund um Inflation und Verschuldung gibt es kaum einen besseren Gesprächspartner als Prof. Olivier Blanchard. Schließlich war der Franzose von 2008 bis 2015 Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, in einer Zeit, die maßgeblich von der Finanzkrise geprägt war.

Mit Olivier Blanchard sprach Claudia Wanner

leitwolf: Professor Blanchard, Sie waren Ihrer Zeit voraus, als Sie schon Anfang 2021 davor gewarnt haben, dass das „Monster der Inflation“ zurückkehren könnte. Damals hat sich noch kaum jemand über die Preisentwicklung Sorgen gemacht. Wo stehen wir heute?

Olivier Blanchard: Wir müssen auf der Hut sein, von allein zieht das Monster sich nicht zurück. Aber wir verfügen über Werkzeuge, um es zu bändigen. Der massive Anstieg der Preise kam für viele Entscheidungsträger tatsächlich überraschend. Aber die Zentralbanken sind fest entschlossen, die Inflation in den Griff zu bekommen, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie wirklich alles dafür Nötige unternehmen werden. Die Situation auf beiden Seiten des Atlantiks stellt sich aber durchaus unterschiedlich dar.

leitwolf: Ist die Lage in Europa ernster als in den USA?

Olivier Blanchard: Die Auslöser sind unterschiedlich. In Europa waren es in erster Linie externe Faktoren, die die Inflation angetrieben haben, insbesondere der plötzliche Sprung bei Energie- und Rohstoffpreisen. Dagegen ist in den USA die Nachfrage ein entscheidender Faktor für die Preissteigerungen. Das 1,9 Billionen US-Dollar schwere Konjunkturpaket, das die Regierung Biden 2021 verabschiedet hat, hat eine massive Nachfragewelle ausgelöst. Die ist wegen der erheblichen Lieferschwierigkeiten als Folge der Pandemie aber direkt vor eine Wand gelaufen. Und auch wenn die Daten für die Gesamtinflation sich rasch verbessert haben, erweist sich die Kerninflation, bei der Energie und Lebensmittel ausgeklammert sind, als zäh. Trotz dieser Unterschiede gilt: Sowohl die Fed als auch die EZB hätten schneller handeln können.

leitwolf: Hat das Zögern die Zentralbanken Glaubwürdigkeit gekostet?

Olivier Blanchard: Ein Stück weit schon. Und wir werden die Folgen noch eine ganze Weile zu spüren bekommen. Um die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, könnten die Zentralbanken versucht sein, mehr zu tun als streng genommen nötig, um so deutlich zu machen, dass sie die Sache kompromisslos angehen. Wir sehen ja widersprüchliche Signale: Die Inflation schwächt sich ab, zumindest die Gesamtinflation. Gleichzeitig bleibt die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Stand, ein Zeichen dafür, dass eine weitere geldpolitische Straffung nötig sein könnte. Geldpolitik wirkt immer erst mit Verzögerung. Wer über uneingeschränkte Glaubwürdigkeit verfügt, kann dem Markt erklären, dass er die Straffung etwas langsamer angehen lässt, dem Ziel, die Inflation zu reduzieren, aber uneingeschränkt verpflichtet bleibt. Diese Botschaft lässt sich sehr viel schwieriger verkaufen, wenn die Glaubwürdigkeit angeschlagen ist. Das kann dann dazu führen, dass die Straffung zu heftig ausfällt. In diesem Spannungsfeld von verzögerter Wirkung der Maßnahmen und der richtigen Dosis an geldpolitischer Straffung das geeignete Maß zu finden, erfordert erhebliches Geschick. Den Zentralbankern kann man dabei nur viel Glück wünschen.

leitwolf: Wir sind aber trotzdem auf dem Weg zurück zum Zielwert von zwei Prozent Inflation?

Olivier Blanchard: Die EZB ist fest entschlossen, die zwei Prozent zu erreichen, und wenn keine weiteren externen Schocks dazwischenkommen, sollte die Inflation Schritt für Schritt zurückgehen. In den USA dürfte die Kerninflation vermutlich auf ein Niveau von drei bis vier Prozent gedrückt werden. Dann wird vermutlich eine Diskussion über die Kosten einer weiteren Senkung einsetzen, wahrscheinlich eine heftig geführte Debatte. Denn eine rasche weitere Reduzierung könnte einhergehen mit einer höheren Arbeitslosigkeit. Ich rechne nicht damit, dass die Fed ihr Inflationsziel aufgibt, eher, dass sie sich Zeit lässt auf dem Weg dorthin.

„Ich gehe davon aus, dass wir bald in eine Welt der niedrigeren Zinsen zurückkehren.“

1948 in Amiens im Norden Frankreichs geboren, hat Olivier Blanchard zunächst Volkswirtschaftslehre und angewandte Mathematik in Paris studiert und danach am Massachusetts Institute of ­Technology (MIT) promoviert. Seine akademische Laufbahn führte ihn nach Harvard, bevor er als Professor ans MIT zurückkehrte. Seit dem Ende seiner Amtszeit als Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds im Jahr 2015 forscht er am Peterson Institute for International Economics in Washington.

leitwolf: Schauen wir weiter voraus. Werden uns bald wieder disinflationäre Entwicklungen wie die demografische Entwicklung beschäftigen?

Olivier Blanchard: Auf längere Sicht haben Demografie, der Aufstieg Chinas oder Ähnliches nicht viel Einfluss auf die Preissteigerung. Es sind die Zentralbanken, die die Höhe der Inflation bestimmen, es ist ihre Entscheidung. Gibt es Druck auf die Preise nach unten, zum Beispiel durch günstigere Importe aus China, können sie die Zinsen lockern. Das hilft der Wirtschaft und bringt die Inflationsrate zurück auf zwei Prozent. Wenn diese Importe dann ausbleiben oder teurer werden, können die Zentralbanken wieder anziehen. Die Diskussion darüber, dass niedrige Importpreise die Inflation gedrückt haben, ist meiner Ansicht nach eine verzerrte Betrachtung. Es waren vielmehr die Zentralbanken, die entschieden haben, das so zuzulassen.

leitwolf: Gehen Sie davon aus, dass wir wieder deutlich niedrigere Zinsen sehen?

Olivier Blanchard: Ich würde erst einmal vorausschicken, dass die Realzinsen nicht übermäßig hoch sind, dafür dass wir mitten im Kampf gegen die Inflation stecken. Ja, sie sind rasch gestiegen, aber im historischen Vergleich sind sie noch relativ niedrig. Und ich sehe keinen zwingenden Grund, warum sie nicht wieder auf das Niveau aus der Zeit vor COVID zurückfallen sollten. Das Timing für mein aktuelles Buch „Fiscal Policy under Low Interest Rates“ war in diesem Zusammenhang allerdings nicht gerade ideal. Wenn alle in Sorge sind wegen steigender Zinsen und teurer Hypothekenkredite, kann das beinahe als Provokation verstanden werden (lacht). Aber ich gehe davon aus, dass wir bald in eine Welt der niedrigeren Zinsen zurückkehren.

leitwolf: Wo wir gerade die Fiskalpolitik gestreift haben: Viele Staaten haben zuletzt die Staatsausgaben und damit die Verschuldung erhöht. Könnte das die Inflation zusätzlich antreiben?

Olivier Blanchard: Im Moment sehen wir tatsächlich relativ hohe Defizite. Ich bin aber überzeugt, dass Regierungen sich diese zwischenzeitlich höheren Haushaltsdefizite trotz hoher Verschuldung leisten können, vorausgesetzt sie nutzen das Geld, um zum Beispiel Haushalte und Unternehmen ein Stück weit von den hohen Energiekosten abzuschirmen, wie viele Regierungen in Europa es tun. Das sollte natürlich nicht unbegrenzt so weitergehen und insofern frage ich mich, ob und wie das Defizit in den USA zurückgefahren werden kann. Die gute Nachricht ist, wenn ich denn recht behalte, dass wir bald in eine Welt der niedrigeren Zinsen zurückkehren sollten. Im Jargon der Volkswirtschaftler bedeutet das, dass r kleiner ist als g, dass also die Zinsen niedriger sind als die Wachstumsraten. Für die Verschuldungssituation bedeutet das ein deutlich günstigeres Umfeld.

leitwolf: Fragen zu Geopolitik und Sicherheit werden seit Monaten immer wichtiger. Müssen Wirtschafts- und Fiskalpolitik daher erst einmal die zweite Geige spielen?

Olivier Blanchard: Die Welt verändert sich, die Spannungen zwischen Staaten nehmen zu. Handel, Direktinvestitionen und Globalisierung könnten stagnieren oder sogar schrumpfen, die Gefahr von Kriegen ist wieder da. Wachstum und Produktivität bekommen diese Entwicklungen deutlich zu spüren. Sicherheit und Widerstandsfähigkeit werden deutlich wichtiger, das führt zum sogenannten Friend Shoring, der Verlagerung von Produktion in Staaten, die als wohlgesinnt gelten. Viele Vorteile des Handels werden durch diese Entwicklung wohl verloren gehen, für die Volkswirtschaften könnte das teuer werden.

leitwolf: Welche Rolle wird China zukünftig spielen – das Land, das so lange Wachstumsmotor war?

Olivier Blanchard: Die chinesische Regierung hat sich für eine Strategie entschieden, die weniger Wachstum impliziert, als wir das in der Vergangenheit gesehen haben. Staatsunternehmen sind einfach nicht so effizient wie privatwirtschaftlich geführte Betriebe. Was mich in diesem Zusammenhang aber nachdenklich macht, ist der Außenhandel. Das Verhältnis der USA zu China, zum Beispiel das Verbot der USA, hoch entwickelte Mikrochips nach China zu exportieren. Für mich erweckt das den Eindruck eines Wirtschaftskrieges. Solche Entwicklungen machen mir Sorgen und die gehen natürlich weit über die volkswirtschaftlichen Effekte hinaus.

leitwolf: Das hört sich düster an. Aber einige Stellschrauben für mehr Wachstum bleiben hoffentlich dennoch …

Olivier Blanchard: Die große Herausforderung für das nächste Jahrzehnt werden grüne Investments sein, der Übergang zu einer Wirtschaft frei von Kohlenstoffemissionen. Wenn das gelingt, wird das Wachstum nachhaltiger, und das wäre eine sehr gute Nachricht. Das Wachstumsniveau könnte sich allerdings abschwächen, was dann wieder andere Probleme auslöst.

leitwolf: Prof. Blanchard, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview wurde im November 2022 geführt.

French Connection

Er hat sein ganzes Berufsleben in den USA verbracht, doch die Verbindungen in sein Heimatland Frankreich hat
Olivier Blanchard nie abreißen lassen – sondern in den vergangenen Jahren sogar eher noch intensiviert: Sehr ausgedehnte Sommerferien verbringe er dort, räumt er mit einem Lächeln ein. Ruhestand ist das aber mitnichten. Blanchard gehört zu den am häufigsten zitierten Ökonomen und veröffentlicht regelmäßig Forschungsarbeiten. Sein besonderes Interesse gilt der Geldpolitik, Spekulationsblasen und Finanzkrisen sowie dem Arbeitsmarkt. Seit dem Start seiner akademischen Laufbahn in den USA gehört Blanchard einem illustren Kreis von Ökonomen an, die eng mit Stanley Fisher verbunden sind, den die Financial Times einst zum „Halbgott der Notenbanken“ gekürt hat. Fisher war Blanchards Doktorvater und – unter anderem – auch der von Mario Draghi, Ben Bernanke und Kazuo Ueda. Geradezu den Status eines Gurus habe Fisher gehabt, als er in den frühen 1980er-Jahren an das MIT zurückgekommen sei, erinnert sich der renommierte Volkswirt Blanchard. Die Jahre, in denen er mit Fisher gelehrt und geforscht habe, würden zu den spannendsten intellektuellen Herausforderungen seines Lebens gehören.

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