Die Stunde der Quereinsteiger

Von Wölfen und Menschen

Die Stunde der Quereinsteiger

Der schwarze Wolf hatte schon mehrfach versucht, sich einem Wolfsrudel zu nähern, um von ihm aufgenommen zu werden. Immer wieder war er vom Leitwolf vertrieben worden. Seine Chance kam, als das benachbarte Rudel seine Wahlfamilie angriff. Mutig verjagte er zwei starke Angreifer. Damit hatte er sich wohl das Recht auf Aufnahme verdient, denn am nächsten Tag gehörte er zu ihnen.

Eine Wolfsfamilie ist eine enge Gemeinschaft. Außenseiter werden meist nur aufgenommen, wenn sie über besondere Fähigkeiten verfügen, die allen im Rudel nützen. Der Schwarze hatte mit seinem mutigen Einsatz gezeigt, dass er bereit war, sein Leben für das Rudel zu geben. Nach dem Tod des Leitwolfes übernahm er später übrigens dessen Position.

Wie in einer Wolfsfamilie, so sind in den meisten Unternehmen die langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Überzahl. Nicht selten haben sie ihre ­gesamte Karriere dort verbracht. Aus Sicht der Unternehmensführung ist es zuverlässiger und kosteneffizienter, für die Besetzung von Führungspositionen eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entwickeln und einzusetzen. Quereinsteiger werden vor allem dann eingestellt, wenn neue Ideen und Kompetenzen gefragt sind. Sie sind in der Regel eher dazu bereit, unbequeme Veränderungen vorzunehmen, jedoch kosten sie oft mehr und bergen das Risiko, wieder abzuwandern. Jemanden von außen einzustellen, lohnt sich immer dann, wenn dieser von wesentlich höherer Qualität ist als die verfügbaren internen Kandidaten oder besondere Eigenschaften mitbringt, die für das Unternehmen von Nutzen sind.

In einer Wolfsfamilie hat jeder seine Aufgabe und weiß, wo er mit seinen Fähigkeiten hingehört. Ein Neuling muss diesen Platz erst noch finden. Ein solches Zugehörigkeitsgefühl ist auch in einer Firma der Schlüssel zu einem erfolgreichen Team. Damit sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – ob Quereinsteiger oder „alter Hase“ – ­zugehörig fühlen, müssen sie wissen, dass sie dem Unternehmen wichtig sind und dass sie für das geschätzt werden, was sie einbringen können.

ELLI H. RADINGER gab 1983 ihren Beruf als Rechtsanwältin auf und arbeitet seitdem als Fachjournalistin und Autorin mit Schwerpunkt Wildtiere und Natur. Die Wolfsexpertin und Autorin beobachtete 30 Jahre lang wild lebende Wölfe in den USA. Ihre Bücher „Die Weisheit der Wölfe“ und „Die Weisheit alter Hunde“ stehen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Im März 2022 neu erschienen ist ihr Buch „Abschied vom geliebten Hund“.
www.elli-radinger.de

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