ACT ALPHA
Aus dem Wohnzimmer in die Wohnzimmer
In den nordischen Ländern hat sich die Nordic Entertainment Group mit ihrem Streaminganbieter Viaplay als feste Größe etabliert. Doch das reicht Vorstandschef und Präsident Anders Jensen nicht. Jetzt will er ins Ausland und so die Investitionen in Inhalte, Sportübertragungsrechte und Technik hebeln. Bei seinem Besuch in Stockholm fragt Portfolio Manager Marcus Ratz nach, wie die Schweden es mit Platzhirschen wie Netflix, Disney und Sky aufnehmen wollen.
Von Ina Lockhart
Eine moderne Stehlampe, drei gemütliche Sessel, ein kleiner Nierentisch und bodenlange durchscheinende Vorhänge an der Wand. Selbst im Eckbüro des Vorstandschefs und Präsidenten der Nordic Entertainment Group, kurz NENT Group, herrscht Wohnzimmeratmosphäre. Anders Jensen, der in seiner Jugend für Schwedens Jugendnationalmannschaft geboxt hat, schafft es, sich trotz seiner beachtlichen Größe von fast zwei Metern elegant und ganz nebenbei in seinem eher grazil wirkenden Lieblingssessel aus braunem Antikleder niederzulassen.
Ein bisschen Wohnzimmer, großzügige und zentral gelegene Teppichinseln mit Sofas und Sesseln, gibt es überall in dem modern verglasten, mehrstöckigen Gebäude mit Penthouse-Kantine und Dachterrasse. Die NENT Group hat sich für ihre Zentrale Stockholms trendiges Viertel Södermalm ausgesucht. „Söder“ – so nennen es die Einheimischen – war einst Arbeiter- und Schmuddelviertel. Hier sitzt die Online-Gaming-Branche mit ihren Entwicklern, hier wird die Fernsehserie „Kommissar Beck“ verfilmt.
Der 52-jährige Jensen, der viele Jahre im europäischen Ausland in Führungspositionen bei Telekomkonzernen wie Telenor und in der Konsumgüterindustrie gearbeitet hat, kommt 2014 zum NENT-Vorgängerunternehmen Modern Times Group (MTG), wo er die Sparte „Nordic Entertainment“ verantwortet. Durch die Abspaltung im Jahr 2018 entsteht mit der NENT Group ein unabhängiges Unternehmen, das Fernsehen, Radio und die damals recht junge Sparte Streamingdienste vereint und mit Jensen an der Spitze im März 2019 an der Nasdaq Nordic in Stockholm sein Börsendebüt feiert.
Der Bereich Streaming ist noch klein zum Zeitpunkt der Trennung, TV und Radio dominieren. Dennoch wechseln etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MTG zur NENT Group und wittern dort den spannenderen Job, weil sie auf Jensens Vision, das „Netflix des Nordens“ mit internationalen Ambitionen aufzubauen, setzen. Heute, vier Jahre später, scheint ihre Wette aufgegangen zu sein: Im letzten Quartal 2021 avanciert Viaplay – unter dem Namen vermarktet die NENT Group ihre Streaminginhalte – mit einem Anteil von 34 Prozent zum Hauptumsatzträger. Der nächste Schritt scheint nur konsequent: Am 18. Mai sollen die Aktionäre die Namensänderung von NENT Group in Viaplay Group genehmigen.
Die Inhalte teilen sich auf in Live-Sportübertragungen, die als „Originals“ bezeichneten Eigenproduktionen, eingekaufte Filme und Serien und teils selbst produzierte Kinderinhalte. „Streaming ist unser Kerngeschäft“, sagt Jensen, der zum Interview ganz in Schwarz, bekleidet mit Pulli, Jeans und Sneakers, erscheint. „Wir verstehen uns heute als Technologieunternehmen. Das war vor sechs Jahren noch anders. Unsere Geisteshaltung hat sich verändert: Für uns setzt die Notwendigkeit, uns schnell zu bewegen, kreative Energie frei. Wird alles zu langsam, langweilen sich unsere Mitarbeiter.“ So wie Jensen, der sich selbst als „Content Nerd“ bezeichnet, sich langweilt, wenn ihn eine Serie in den ersten 15 Minuten nicht gleich fesselt. Dem Vater von drei erwachsenen Söhnen und einer 17-jährigen Tochter ist es wichtig, dass seine mittlerweile rund 1.500 Mitarbeiter Spaß an ihrer Arbeit haben.
Der Mensch als Vorbild: Für ihre Trickfilmhelden zeichnet Viaplay die Bewegungen und die Mimik von speziell ausgebildeten Schauspielern auf.
Von Studio-Chef Jens Köpsén lässt Marcus Ratz sich die Herstellung der Animationsfilme erläutern. „Fixi“ (Mitte) ist die bekannteste Trickfilmfigur von Viaplay.
Marcus Ratz, der als Partner und Portfolio Manager bei Lupus alpha verschiedene Small & Mid Caps-Fonds verantwortet, kennt die NENT Group schon seit MTG-Zeiten. Lupus alpha ist über verschiedene paneuropäische Fonds derzeit mit 1,2 Prozent investiert. „Das Unternehmen hat es verstanden, sich im Sportbereich mit der Formel 1 und der Bundesliga wichtige Sportübertragungsrechte in ausgewählten Ländern im richtigen Moment zu sichern.“ CEO Jensen beansprucht für sich, das größte Portfolio an Sportübertragungsrechten in Skandinavien zu besitzen. Darüber hinaus besitzt Viaplay wichtige Übertragungsrechte in Polen, den Niederlanden und dem Baltikum.
Die internationale Expansion ist im vollen Gang: Seit Dezember 2021 ist Viaplay über eine Partnerschaft mit dem lokalen Anbieter Comcast in den USA auf dem Markt. Im März ist Viaplay in den Niederlanden gestartet, Großbritannien und Deutschland sollen neben anderen Ländern noch folgen. Bis 2023 wollen die Schweden mit ihrem Streamingangebot in 16 Ländern präsent sein. Bis 2025 soll sich die Zahl der Viaplay-Abonnenten von aktuell rund 4 Millionen auf 12 Millionen verdreifachen. „Zuerst war ich skeptisch, was die Expansionspläne anging“, sagt Ratz. „Doch bei genauerem Hinsehen hat sich mir die Strategie erschlossen und mich überzeugt.“
Für Jensen ist die Zeit gekommen, die Früchte seiner Arbeit zu ernten: „Wir machen es wie Disney, nur umgekehrt. Disney bekommt seine Inhalteproduktion durch den US-Markt bezahlt. Bei uns ist es das Publikum in den nordischen Ländern. Die Auslandsexpansion bietet uns nur Vorteile. Die Grenzkosten sind gering, der Margeneffekt ist beträchtlich. In die Produktion neuer Inhalte investieren wir sowieso.“ In diesem Jahr plant Viaplay mindestens 70 Premieren von „Originals“ – darunter auch zahlreiche in englischer Sprache.
In den USA sieht Jensen seine Zielgruppe in den Metropolen der Ostküste sowie in Los Angeles, San Francisco und Seattle an der Westküste. Dabei setzt er auf das Nordic-Noir-Storytelling, also das skandinavische Krimiformat. Das werde auch in Deutschland ziehen. Ob er dort Sportinhalte anbieten werde, hat er noch nicht entschieden. In Großbritannien, das bei Sportinhalten von Sky dominiert wird, will er Viaplay in Nischensportarten wie Eishockey positionieren.
Max Verstappen. Viaplay konnte den Rennfahrer als Markenbotschafter gewinnen.
Führt das Unternehmen seit 2018 mit Engagement und Herzblut: Präsident und CEO Anders Jensen.
Werbeplakate mit den „Originals“ von Viaplay zieren die Wände in den Bürofluren.
Broadcast-IT-Ingenieur Daran Ewing erklärt Marcus Ratz die neue Videotechnik im Kontrollraum.
In anderen Märkten nutzen die Schweden den Anziehungseffekt von Sportstars: Dank des erfolgreichen FC-Bayern-Stürmers Robert Lewandowski ist Viaplay in dessen Heimatland Polen mit dem Streaming der Bundesligaspiele sehr erfolgreich. Im Januar dieses Jahres, knapp vier Wochen, nachdem der Niederländer Max Verstappen in der Formel 1 den Weltmeistertitel holt, macht Viaplay eine exklusive mehrjährige Partnerschaft mit dem jungen Rennfahrtalent perfekt. „Die Bindung Max Verstappens an die Marke Viaplay war ein sehr kluger Schachzug“, sagt der Lupus alpha Portfolio Manager.
Verstappen wird nicht nur das Gesicht der Kampagne in seiner Heimat und Viaplays internationaler Markenbotschafter, sondern spielt auch die Hauptrolle in dem ersten Teil der selbst produzierten Dokumentarfilmserie über die Formel 1, der pünktlich zum Marktdebüt in den Niederlanden seine Viaplay-Premiere feiert. „Lion Unleashed“ gibt Einblicke in das Leben des Niederländers und zeichnet nach, wie er es in der Formel 1 bis ganz nach oben geschafft hat. Die Schweden wollen zeigen, dass sie es besser können als Netflix mit der Staffel „Drive to Survive“. Jensen zitiert an dieser Stelle Verstappen: „Netflix kennt sich mit Inhalten aus, aber nicht mit dem Sport.“
Der Film über Verstappen ist ein Beispiel, wie Jensen die beiden wichtigsten Säulen von Viaplay – die Produktion eigener Filminhalte und das Live-Sportstreaming – gewinnbringend verbinden will. Nicht nur Verstappen nimmt die Viaplay-Abonnenten mit in sein Leben. Die ehemalige Nummer 1 der Weltrangliste im Frauentennis, die Dänin Caroline Wozniacki, lässt sie in dem englischsprachigen Sechsteiler „Wozniacki & Lee“ daran teilhaben, wie sie und ihr Mann, der NBA-Basketballspieler David Lee, nach dem Ende ihrer großen Sportkarrieren ihr Elterndasein genießen.
Marcus Ratz
Marcus Ratz und Anders Jensen im Gespräch über die Expansionsstrategie von Viaplay.
Die Füße wollen atmen. NENT-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter lieben es relaxed.
Spontane Musik-Session mit Radiomoderator Richie Puzz. Er ist einer der bekanntesten Radiomoderatoren in Schweden.
In Verstappens Heimat, wo Viaplay die größte Streamingplattform werden will, weiß der einstige Telekom-Manager Jensen, dass es bei Top-Sportevents auf leistungsfähige Technik und ausreichende Netzkapazitäten ankommt. Nur so haben die Abonnenten ein Top-Streamingerlebnis. Für die erste Formel-1-Übertragung schalten sich die meisten Zuschauer über die Streamingplattform zu. Die Zugriffszahlen erreichen einen Rekord. „Hier zahlt sich aus, dass Jensen ein erfahrener Telekom-Mann ist“, sagt Portfolio Manager Ratz. „Andere Wettbewerber haben da schon wegen mangelnder Netzkapazitäten Blamagen erlitten. Die Live-Sportübertragung wurde für deren Abonnenten zu einem abgehackten Zeitlupenfilm in schlechter Bildqualität.“
Streng genommen profitiert die NENT Group jetzt von der Investitionsstrategie, die Jensen eingeleitet hat, als er 2014 zum Vorläuferunternehmen MTG kam. Bis heute habe die NENT Group 1,5 Milliarden Euro in ihre Streamingplattform investiert. „Als ich anfing, habe ich die Fehler entdeckt, die viele Medienunternehmen machen: zu wenig in die Technik der Zukunft zu investieren, zu viel auszulagern und dadurch zu wenig direkt zu kontrollieren.“ Vieles habe er wieder ins Unternehmen zurückgeholt. „Heute arbeiten mehr als 300 Tech-Entwickler aus mehr als 40 verschiedenen Ländern für uns.“
Einer dieser Technik-Generationswechsel vollzieht sich gerade in einem der Kontrollräume der drei hauseigenen Fernsehstudios. Eine stählerne Wendeltreppe führt hinauf in den Raum mit einer Wand voller Bildschirme und Tischreihen mit Arbeitsplätzen. Von dort oben schaut man durch die großen Fenster in das Premier-League-Studio hinab, das eher unspektakulär daherkommt: Wände und Boden nahtlos in Grün gestrichen, der große, geschwungene Moderationstisch steht verloren im großen Raum. Zum Leben wird das Studio erweckt, wenn Daran Ewing mit seinem eingespielten Team aus Audiotechnikern, Live-Filmeditoren, Bildmischern und Virtual-Reality-Spezialisten loslegt.
Ewing behält dabei als Broadcast-IT-Ingenieur den Durch- und Überblick. Seit März 2021 läuft hier die Umstellung von SDI zu IP-Videotechnik. „IPTV hat den Vorteil, dass Audio- und Videosignale von Anfang an getrennt übertragen werden“, erklärt Ewing. „Deswegen braucht man viel weniger Infrastruktur und die Arbeitsroutinen sind komplett anders als vorher. Allerdings merken wir das jetzt noch nicht zu 100 Prozent, weil wir derzeit die Herausforderung haben, mit beiden Techniken in dieser Übergangsphase zu jonglieren. Doch die ersten positiven Effekte der Umstellung spüren wir bereits.“
Blick in ein Großraumbüro der NENT Group: Wohnzimmeratmosphäre und konzentriertes Arbeiten sind kein Widerspruch.
Ein weiteres Beispiel, wie Jensen in Zukunft investiert, findet sich ein paar Straßen entfernt von der Zentrale. Hier, in einem ehemaligen Fabrikgebäude, produziert Viaplay eigene Trickfilme. Das Studio sieht ganz anders aus: Eine mit schwarzem Teppich ausgelegte Freifläche erstreckt sich vor einem riesigen Screen. Schaut man nach oben, entdeckt man die Reihen von kleinen Kameras, die über der gesamten Fläche angeordnet sind. Damit sie jede einzelne Bewegung von speziell für Trickfilm ausgebildeten Schauspielern aufnehmen können. Diese tragen keine Kostüme, sondern besondere Anzüge, und haben ein Smartphone auf Distanz vor die Stirn geschnallt, damit die Mimik genau aufgezeichnet werden kann.
Alles Weitere machen die Softwareprogrammierer, von denen viele aus der Gamingbranche kommen, zusammen mit Spezialisten für Audio- und Lichteffekte. Was als Teil der Entwicklungsabteilung mit Fokus auf Virtual Reality gestartet ist, sind heute die Viaplay Animation Studios. Die Trickfilme passen gut in Jensens Expansionsstrategie: „Die Inhalte lassen sich gut international vermarkten, sie müssen nur synchronisiert werden“, sagt IT-Ingenieur und Animation-Studio-Chef Jens Köpsén.
Nicht nur hier laufen viele der NENT-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auf Socken oder in Hausschuhen herum. Auch in dem Teil, den Jensen als MTG-Erbe bezeichnet, fühlt sich Radiomoderator Richie vom Rocksender „Bandit Rock“ wie zu Hause. Er hat sein kleines Studio zu seinem Wohnzimmer gemacht. Für Live-Musikeinlagen hat er dort ein Schlagzeug und eine Reihe von Gitarren stehen. Schuhe trägt er nie, wenn er hier ist. „Meine Füße wollen ja schließlich atmen.“
Gute Führung zahlt sich aus!
Durch die Pandemie musste unser Portfolio-Management-Team oft virtuelle Wege gehen, um den Kontakt zu den Verantwortlichen der Unternehmen zu pflegen, der für die erfolgreiche Titelselektion im Anlagesegment der Small & Mid Caps unverzichtbar ist. Nun sind Live-Besuche – wie bei Nordic Entertainment (NENT) in Stockholm – endlich wieder möglich.
Im Vordergrund unserer Gespräche mit dem Management steht natürlich die Geschäftsentwicklung. Aber es geht uns auch um die weichen Faktoren: Wie engagiert und authentisch spricht der CEO über sein Unternehmen und die weitere Strategie? Wie ist die Stimmung im Unternehmen? Wie reagiert das Management auf kritische Fragen?
Am Beispiel von NENT sieht man, wie sehr sich gute Führung auszahlt. Anders Jensen macht seinen Job mit Leidenschaft, bringt seine Expertise erfolgreich in die Weiterentwicklung des Unternehmens ein und ist mutig genug, dort zu investieren, wo Wettbewerber dies nicht getan haben. Und es gelingt ihm, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit auf die Reise zu nehmen und sie für seine ehrgeizigen Ziele zu begeistern. Eine solche Kultur ist in unseren Gesprächen vor Ort deutlich spürbar.
Nur mit diesen persönlichen Eindrücken erhalten wir ein vollständiges Bild von einem Unternehmen – und damit eine verlässliche Entscheidungsgrundlage für unsere Investments.
DR. GÖTZ ALBERT,
MANAGING PARTNER UND CIO VON LUPUS ALPHA
Fotos/Illustrationen: Markus Kirchgessner