„Bescheidenheit und Bodenhaftung sind wichtig“

Vom Lehrer zum Vorstandschef eines Fortune-500-Unternehmens. Und das als Deutscher. Nach 16 Jahren an der Spitze von AGCO genießt Martin Richenhagen nun seinen Ruhestand. Im Interview spricht der Transatlantiker über seine Erfahrungen als CEO, die USA unter Biden und ihr zukünftiges Verhältnis zu Deutschland.

Mit Martin Richenhagen sprach Ina Lockhart

leitwolf: Herr Richenhagen, Ende 2020 haben Sie die Führung von AGCO nach 16 Jahren abgegeben. Was haben Sie an Ihrem ersten arbeitsfreien Tag gedacht bzw. gemacht?

Martin Richenhagen: Gedacht habe ich, dass ich die durchschnittliche Amtszeit amerikanischer Fortune-500-CEOs, die zweieinhalb Jahre beträgt, deutlich überschritten habe. Nach einem gemütlichen Frühstück mit meiner Frau habe ich mich auf meine Lieblingsstute „Lauries Landliebe“ gesetzt, um mit ihr Dressurarbeit zu machen.

leitwolf: Sie waren der einzige deutsche Chief Executive Officer (CEO) eines Fortune-500-Unternehmens. Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs in Amerika?

Martin Richenhagen: Bescheidenheit und Bodenhaftung sind wichtig für den Erfolg als CEO. Zudem müssen Sie eine hohe soziale Kompetenz mitbringen und ein guter Zuhörer sein. Lernbereitschaft ist wichtig sowie ein ernsthaftes Interesse für Mitarbeiter und Geschäft.

leitwolf: Sie haben in Ihrer Karriere für deutsche und amerikanische Konzerne gearbeitet. Wie unterscheidet sich das deutsche Unternehmertum vom amerikanischen?

Martin Richenhagen: Die Amerikaner sind risikofreudiger und finanztechnisch professioneller organisiert. Unternehmen in Deutschland investieren sehr viel in die Wartung ihrer Anlagen. Das habe ich vor allem bei Familienunternehmen erlebt. Dagegen schreiben die Amerikaner ihre Anlagen ab, nutzen diese zu niedrigsten Kosten und verschrotten sie am Schluss, um neue Technologie zu kaufen. Deutschen Unternehmen fehlt am Ende manchmal das Kapital für Neuinvestitionen, weil sie alles in den Erhalt der Anlagen gesteckt haben.

„Die Amerikaner sind gegenüber den Deutschen immer noch extrem positiv gestimmt. Umgekehrt ist das nicht der Fall.“

leitwolf: Wie würden Sie die Stimmung in der amerikanischen Wirtschaft nach dem Sieg der Demokraten unter Joe Biden beschreiben?

Martin Richenhagen: Erst einmal sind die amerikanischen CEOs erleichtert und moderat positiv gestimmt. Sie erwarten von der Biden-Administration mehr Planbarkeit und eine Politik, die vorhersehbarer ist.

leitwolf: Was wird sich unter dem neuen Präsidenten konkret ändern?

Martin Richenhagen: Der Umgang miteinander. Joe Biden verfügt über eine gute Allgemeinbildung, eine gute Erziehung und ordentliche Manieren. Er wird ganz anders agieren als sein Vorgänger Donald Trump. Es hat noch nie einen amerikanischen Präsidenten gegeben, der in den ersten beiden Tagen nach der Amtseinführung so viel bewegt hat wie Biden. Er hat gleich etliche Entscheidungen Trumps zurückgedreht. Beispielsweise machen die Amerikaner wieder mit beim Pariser Klimaabkommen und bei der Weltgesundheitsorganisation.

leitwolf: Welche Maßnahmen erhofft sich Amerikas Wirtschaftswelt besonders?

Martin Richenhagen: Mit großer Spannung werden die angekündigten Investitionsmaßnahmen erwartet. Vor allem in die amerikanische Infrastruktur. Ich sage immer scherzhaft, die Vereinigten Staaten sind das reichste Entwicklungsland der Welt. Es gibt Probleme bei den Brücken, den Eisenbahnen und mit der Stromversorgung – um nur einige Beispiele zu nennen. Jedes Haus hier ist mit einem Generator ausgestattet, weil es ganz normal ist, dass der Strom mal ein paar Stunden oder sogar ein, zwei Tage ausfällt.

leitwolf: Wie schätzen Sie die Wirtschaftskompetenz von Joe Biden und seines Regierungsteams ein?

Martin Richenhagen: Nach jetzigem Stand hat Biden ein beeindruckendes Team: crossgender, sehr divers, jung und alt, ganz erfahrene Leute. Das stärkt die Hoffnung, dass die Regierung kompetent agieren wird. Auch an den Börsenkursen ließ sich das ablesen. Sobald klar war, dass Biden Amerikas neuer Präsident werden würde, gingen die Aktienkurse durch die Decke.

leitwolf: Einige Jahre standen Sie der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer vor. Wie stark haben die transatlantischen Beziehungen in der Ära Trump gelitten?

Martin Richenhagen: Dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht sehr im Fokus eines amerikanischen Präsidenten standen, hat bereits unter Barack Obama angefangen. Sein Interesse richtete sich mehr gen Asien. Donald Trump war natürlich eine Katastrophe und hat die Beziehung zwischen Amerika und Deutschland massiv beschädigt. Weniger was die Wirtschaft angeht, sondern eher die generelle Haltung. Die Amerikaner sind gegenüber den Deutschen immer noch extrem positiv gestimmt. Umgekehrt ist das aber nicht der Fall. Das weiß ich aus persönlicher Erfahrung. Freunde haben uns nicht besucht, weil sie kein Land bereisen wollten, das so einen Präsidenten hat. Die Schäden sind schwer, aber reparabel.

leitwolf: Sie haben den Vorsitz des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns-Hopkins-Universität in Washington inne. Was genau macht dieser Thinktank?

Martin Richenhagens Leidenschaft für Pferde wird zum Beschleuniger für seine Managerkarriere. Weil ihn seine Tätigkeit als junger Gymnasiallehrer für Religion, Französisch und Philosophie nicht ausfüllt, leitet der passionierte Dressurreiter und spätere Züchter nebenher einen Reitstall – und begegnet so dem Stahlunternehmer Jürgen Thumann, der seinen Reitstall sponsert. Ein Job in Thumanns Unternehmen und ein BWL-Studium folgen. Nach Karrierestationen in der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden zieht Richenhagen 2004 mit seiner Frau Brigitte und seinen drei Kindern in die USA nach Atlanta, um dort als CEO den Landmaschinenhersteller AGCO zu leiten. 2017 wird dem 1952 in Köln geborenen Manager das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen – für sein Engagement als Transatlantiker und Afrika-Förderer. Ende 2020 zieht sich der 68-Jährige nach 16 Jahren an der Spitze von AGCO in den Ruhestand zurück.

Martin Richenhagen: Das Institut ist überparteilich und möchte Ansprechpartner sowie Berater sein – für die Medien, die Politik, die Wirtschaft und auch die Verbände, wenn es um die deutsch-amerikanischen Beziehungen geht. Es will einen wesentlichen Beitrag zur Repositionierung der Marke Amerika und der Reparatur des amerikanischen Images in Deutschland leisten. Zu beiden Themen forscht das Institut. Einzelgespräche mit führenden Politikern Deutschlands sind angestrebt. Gleichzeitig planen wir Konferenzen, um einen thematischen Rahmen für den Austausch zu bieten. Traditionell laden wir beispielsweise auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu einem Frühstück ein.

leitwolf: Trump hat Deutschland wegen seines Handelsbilanzdefizits angeprangert. Welchen Kurs wird Joe Biden hier verfolgen?

Martin Richenhagen: Das Handelsbilanzdefizit wird auch in Zukunft ein Thema sein. Das stört ja nicht nur die Amerikaner, sondern auch alle europäischen Nachbarn. Gegenüber Amerika könnte die deutsche Regierung ihre Position knackiger formulieren, beispielsweise in einem Positionspapier. Deutschland könnte darin klarmachen, dass die Statistik nicht die gesamte Realität zum Ausdruck bringt. Etwa, dass die großen amerikanischen Technologiekonzerne in diesen Zahlen gar nicht enthalten sind und dass die deutsche Wirtschaft in Amerika stark investiert. Der größte amerikanische Automobilexporteur ist nicht Ford oder General Motors, sondern BMW. Auch der enorme Beitrag, den Deutschland in der Entwicklungshilfe leistet, geht in der Statistik unter.

leitwolf: Wo hat Deutschland Handlungsbedarf im Hinblick auf seine internationale Positionierung?

Martin Richenhagen: Mit Blick auf Russland haben wir Deutschen massiven Handlungsbedarf. Da müssen wir über unseren Schatten springen, um Feindbilder zu überwinden und die Gespräche mit Russland zu intensivieren. Verhandeln und Einbinden ist hier die Devise. Gleichzeitig sehen die Amerikaner unsere Beziehungen zu Russland kritisch. Die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 wird auch in Zukunft ein Thema sein. Unter Biden werden die Verhandlungen sicherlich sachlicher erfolgen, aber die kritische Haltung wird bleiben. Ohne Zweifel wird das Thema Russland zu einem Spagat für Deutschland.

leitwolf: Wie sieht es mit Deutschland und China aus?

Martin Richenhagen: Gegenüber China sind die Deutschen im Vergleich zu anderen Nationen, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, viel nachgiebiger. China ist weiterhin eine Diktatur, das Thema Menschenrechte ist problematisch. Das wird von den Deutschen aber gern übersehen. Ich bin für gute Handelsbeziehungen mit China. Doch dürfen wir dabei nicht unsere ethischen Werte verraten und genau das machen wir bei China gern schon einmal.

leitwolf: Wie beurteilen Sie Deutschlands militärische Präsenz?

Martin Richenhagen: Auch Biden wird Deutschlands NATO-Beitrag einfordern. Da kann ich die deutsche Politik nicht wirklich verstehen. Deutschland drückt sich um sein Engagement. Die Bundeswehr ist in einem desolaten Zustand. Die Amerikaner wollen nicht mehr die Rolle der Weltpolizei spielen. Wir Deutschen sind als militärische Verbündete gefordert. Ich sehe das als Chance. Für Deutschland heißt das, dass wir uns nicht nur auf Ausrüstung, Ausbildung und Sanitätsleistungen stürzen, sondern uns auch im Falle von militärischen Auseinandersetzungen an Kampfeinsätzen beteiligen.

leitwolf: Die Ära Merkel geht 2021 nach 16 Jahren zu Ende. Welche Nachfolge, personell und parteipolitisch, würden Sie Deutschland wünschen?

Martin Richenhagen: Bei der SPD sehe ich keinen Kanzlerkandidaten. Denkbar ist, dass die Grünen an die Regierung kommen. Diese Partei hat gute, bewährte und auch junge Politiker. Was die CDU angeht, so muss sich nun der Parteivorsitzende Armin Laschet als Kanzlerkandidat beweisen.

leitwolf: AGCO richtet regelmäßig eine Afrika-Konferenz aus, um Investments auf diesem Kontinent zu fördern. In Sambia betreibt der Konzern seit vielen Jahren „a Future Farm“ für die Ausbildung lokaler Bauern. Was passiert da genau?

Martin Richenhagen: Für AGCO stand und steht bei der „Future Farm“ immer das Prinzip von Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund: Kleine, nachhaltig wirtschaftende Bauern sollten nicht mehr nur für ihren Eigenbedarf ihre Felder bestellen, sondern ihre Produktion ausbauen, um Gewinne und damit Kapital für weitere Investitionen zu erzielen. Also verkaufen wir nicht nur Landmaschinen, sondern vermitteln auch das entsprechende Know-how, wie man moderne, mechanische Landwirtschaft betreibt. Jährlich durchlaufen etwa 10.000 Afrikaner diesen Ausbildungsprozess. Wir sind dabei, die Ausbildung zu digitalisieren, um mit unserem Angebot auch ganz entlegene Ecken Afrikas zu erreichen. Außerdem wurde ein Studiengang zum Diplom-Agraringenieur mit betriebswirtschaftlicher Ausrichtung geschaffen, für den AGCO Stipendien vergibt.

leitwolf: Sie haben drei Kinder. War es Ihnen und Ihrer Frau dabei wichtig, Ihren Kindern auch typisch deutsche Werte mitzugeben? Und wenn ja, welche waren das?

Martin Richenhagen: Meine Kinder waren bis zu ihrem Abitur in Deutschland, leben und arbeiten jetzt aber in Amerika. Bei ihrer Erziehung haben wir natürlich auch deutsche Werte vermittelt wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiß und – das ist eine besondere Macke von mir – Ordnung (schmunzelt).

leitwolf: Sie waren in Ihrem Leben nicht nur sehr erfolgreich, sondern haben sich auf vielen Bühnen, darunter auch der des Pferdesports, engagiert. Verraten Sie uns, was Sie privat und beruflich noch reizen könnte?

Martin Richenhagen: Ich habe einen Traum: Ich würde gern ein Dressurpferd züchten und ausbilden, das so gut ist, dass es an der Olympiade teilnimmt.

leitwolf: Herr Richenhagen, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Der Transatlantiker

Wenn Martin Richenhagen das Wort ergreift, wird dem Zuhörer schnell klar, dass er sagt, was er denkt. Bestimmt, aber unaufgeregt. Das hat er als CEO von AGCO ebenso getan wie als Präsident der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer oder als Mitglied des President’s Advisory Council on Doing Business in Africa. Er bezeichnet es als besondere Auszeichnung, dass das renommierte Business Council, das Netzwerk führender CEOs in den USA, ihn eingeladen hat, auch als Nicht-mehr-CEO dabeizubleiben. Weiterhin innehaben wird Richenhagen zudem den Vorsitz des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, das sich u. a. für die Verbesserung des amerikanischen Images in Deutschland einsetzt. Im April 2021 ist seine Biografie «Der Amerika-Flüsterer» bei Edel Books erschienen, die zugleich ein Plädoyer für mehr kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Austausch zwischen Deutschland und den USA ist.

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