„Volatilität gehört zu den Finanzmärkten“

Welche Rolle spielen die Erwartungen von Marktteilnehmern und was bedeutet das für die Volatilität, wenn Player sich zunehmend professionalisieren? Im Gespräch: Prof. Georg Weizsäcker von der Humboldt-Universität zu Berlin und Alexander Raviol von Lupus alpha.

Redaktion Markus Gutberlet. Bildredaktion Stefan Nigratschka

leitwolf: Die „Credibility Revolution“ hat die Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Was sind die zentralen Aspekte?

Prof. Georg Weizsäcker: Empirische Methoden haben im Rahmen der Credibility Revolution einen deutlich höheren Stellenwert gewonnen. Dabei fokussiert die empirische Forschung heute auf kausale Einsichten. Ein gutes Beispiel bietet der Nobelpreis des vergangenen Jahres für die Entwicklungsökonomen Duflo, Banerjee und Kremer. Sie wurden für den methodischen Aspekt ihrer Arbeit ausgezeichnet: Sie untersuchen zum Beispiel in Feldexperimenten, welche Wirkung der kostenlose Zugang zu Gesundheitsgütern auf Wohlfahrt und Arbeitsmarktteilnahme hat. Dies wird gemessen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die einen solchen Zugang nicht erhält. Auf diese Weise kann man auf den Wirkungszusammenhang der Gesundheitsmaßnahmen schließen. Auch in der Finanzmarktforschung definieren kontrollierte Kausalanalysen heute den wissenschaftlichen „Goldstandard“. Als Datentyp kommt hier den direkten Befragungen von Marktteilnehmern eine wachsende Bedeutung zu. Denn an den Finanzmärkten interessieren die Forscher oft die Erwartungen von Akteuren – und die kann man letztlich nur durch Befragung herausbekommen.

leitwolf: Einen Investor interessieren vor allem valide Prognosen zu Leitzins- oder Marktpreisentwicklung. Was können die Wirtschaftswissenschaften leisten?

Alexander Raviol: Meine Erfahrung ist, dass solche Prognosen zukünftige Werte nicht besonders genau vorhersagen. Ich habe den Eindruck, dass wir auch aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge in Wirtschaftssystemen und an den Finanzmärkten oft nicht die Situation haben, die Sie gerade als Basis für den wissenschaftlichen Goldstandard beschrieben haben. Wenn beispielsweise die Leitzinsen gesenkt werden, geschieht das typischerweise in einem Umfeld, in dem sich ganz viel an anderen möglichen kausalen Einflussparametern geändert hat.

Prof. Georg Weizsäcker: Oh ja, es ist generell eine gewisse Demut bei den Prognosen in der Wirtschaftswissenschaft angebracht. Denn ich stimme vollkommen zu: Der Komplexität der realen Wirtschaft und Finanzmärkte sind die stark vereinfachenden mathematischen Modelle kaum gewachsen. Praktiker sollten genau darauf achten, welche Ereignisse in den Modellen beschrieben werden, und sie müssen die empirisch geschätzte Unsicherheit der Vorhersage berücksichtigen. Noch schlimmer: Wir können oft nicht sicher sein, ob nicht unser gesamtes Modell, das wir gerade zugrunde legen, zu kurz greift. Die Modelle sind immer nur eine Annäherung der Realität – aber immerhin das.

Alexander Raviol ist Partner und CIO Alternative Solutions bei Lupus alpha. Das Gespräch wurde aufgrund der Social-Distancing-Vorgaben im April 2020 als Videokonferenz aufgezeichnet.

leitwolf: Auch die Einschätzung der Volatilität, die in einem Markt zu erwarten ist, bereitet Schwierigkeiten. Was steckt dahinter?

Alexander Raviol: Wir beobachten seit Jahren, dass die von Anlegern erwartete implizite Volatilität im Durchschnitt deutlich über den Werten der tatsächlich realisierten Volatilität liegt. Unsere Erklärung dafür: Viele Investoren wollen den Einfluss von Volatilität auf ihr Portfolio vermindern. Deshalb sind sie bereit, Prämien an andere Marktteilnehmer zu zahlen, die dieses Risiko übernehmen und so in die Rolle eines Versicherers gegen Volatilität schlüpfen. Diese Prämien sind langfristig höher als die Kosten für „Leistungsfälle“ der Versicherung. Denn der „Versicherer“ muss ja langfristig ein Interesse an dem Geschäft haben. Das steht hinter der Risikoprämie.

Prof. Georg Weizsäcker: Der Begriff der Risikoprämie passt hier gut. Investoren sind sich offenbar bewusst, dass sie in Märkten mit großer Heterogenität der Marktteilnehmer agieren, und dies erzeugt Volatilität und Unsicherheit. Unterschiedliche Anleger, das lässt sich zumindest in definierten Laborsituationen nachweisen, erzeugen zum Beispiel große Unterschiede in Preis- und Blasenbildung an Märkten. Man hat hierzu Laborexperimente durchgeführt, bei denen man die Probanden in zwei Gruppen eingeteilt hat: eine kognitiv starke Gruppe – ausgewählt auch danach, wie gut sie andere einschätzen können – und eine kognitiv schwächere Gruppe. Die Teilnehmer wussten, welcher Gruppe sie zugeteilt werden, und wussten daher auch, mit wem sie es zu tun haben. Sie sollten dann Assets handeln, deren fundamentaler Wert durch vorab beschriebene Dividendenströme definiert war. Bei der Gruppe mit den kognitiv schwächeren Probanden kam es zu signifikant höheren Abweichungen des Marktpreises vom Fundamentalwert.

„Aus konzeptionellen Überlegungen ist es ausgeschlossen, dass Volatilität verschwinden wird.“

leitwolf: Welche Rolle spielen einzelne Akteure und strukturelle Faktoren der Märkte?

Prof. Georg Weizsäcker: Wichtig ist generell, es bestimmt nicht der durchschnittliche Akteur den Marktpreis, sondern der marginale. Wer heute als Letzter kauft – zum Beispiel in der Erwartung, morgen zu einem höheren Preis zu verkaufen –, macht den Preis. Das kann eine interne Dynamik zur Übertreibung bei den Marktpreisen entfalten. In der wissenschaftlichen Literatur werden dementsprechend auch strukturelle Faktoren identifiziert, die eine solche Dynamik zusätzlich begünstigen – zum Beispiel Short Sale Constraints. Pessimistische Marktteilnehmer können, etwa aufgrund von Gremien- oder regulatorischen Vorgaben, nicht im selben Umfang short wie long investieren und sie können daher ihre negative Marktmeinung nicht im selben Umfang ausdrücken, wie sie das bei einer positiven Meinung könnten. Dies ist dann auch anderen Marktteilnehmern bekannt und kann zu Spekulation führen.

leitwolf: Verschwindet Volatilität durch das zunehmende Gewicht regelbasierter Investoren – etwa durch KI und quantitative Modelle oder durch ETFs?

Alexander Raviol: Ich bin überzeugt, dass Volatilität zu den Finanzmärkten gehört – umgekehrt würde das ja im Grunde auf eine determinierte Zukunft hinauslaufen, was für uns Menschen nicht denkbar ist. Bei den quantitativen Modellen konnte man in der Vergangenheit zudem beobachten, dass sie oft zur Verstärkung von Ausschlägen bei der Preisbildung beigetragen haben. Gerade weil sie so gleichförmig agieren – und dabei dieselben blinden Flecken haben. Bei passiven ETFs liegt die Sache anders. Sie können zusätzlich privaten Anlegern mit weniger Finanzbildung den Zugang zu Finanzmärkten eröffnen und so Erwartungsheterogenität ins System bringen.

Prof. Georg Weizsäcker: Heterogenität ist für mich der zentrale Punkt. Bei innovativen automatisierten Handelssystemen ist daher die Frage, ob diese letztlich zur Reduktion der Heterogenität in den am Markt wirksamen Erwartungen beitragen oder eben nicht. Die Verbreitung von Anlagen in ETFs durch private Anleger mit geringerer Finanzbildung ist weltweit sicher ein wichtiger Aspekt, nicht zuletzt weil hier ein Beitrag zu den Alterssicherungssystemen geleistet werden kann. Die allgemeine Finanzbildung zu verbessern, ist auch generell eine wichtige Aufgabe. Allerdings ist der Weg noch weit: Das lässt sich auch an Anlegerbefragungen hier in Deutschland ablesen. Dabei liegen die Erwartungen bezüglich der Aktienmärkte deutlich pessimistischer als alle Erfahrungswerte. Auf 30 Jahre – so die durchschnittliche Einschätzung – werde der DAX nur 20 % (!) zunehmen. Und ich stimme Ihnen zu, Herr Raviol. Allein vor dem Hintergrund der genannten konzeptionellen Überlegungen kann man es als ausgeschlossen bezeichnen, dass Volatilität jemals verschwinden wird.

Der Verhaltensökonom Prof. Georg Weizsäcker, Ph. D., ist Professor für mikroökonomische Theorie und ihre Anwendungen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Promotion an der Harvard University folgten Stationen und Professuren an der London School of Economics and Political Science und dem University College London.

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