„Investoren sollten jede einzelne Position ihres Portfolios prüfen“

Mohamed A. El-Erian gilt als Investorenlegende. Die Beschwerdeliste seiner 16-jährigen Tochter soll ihn 2014 zum Rücktritt als PIMCO Vorstandschef bewegt haben. Seitdem findet der Sohn eines ägyptischen Vaters und einer französischen Mutter als Berater Gehör. Er fürchtet, dass wir im Kampf gegen das Coronavirus die Fehler wiederholen, die wir in der Finanzkrise gemacht haben, und rät Anlegern, ihr Portfolio auf mehr Qualität auszurichten.

Mit Mohamed A. El-Erian sprach Ina Lockhart 

leitwolf: Herr El-Erian, vor sechs Jahren haben Sie die Finanzwelt mit Ihrem Rückzug von der PIMCO Spitze überrascht – von einem Unternehmen, das als einer der Top Fixed Income-Manager gilt. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen?

Mohamed A. El-Erian: Ich habe PIMCO verlassen, weil das Zusammenspiel zwischen Arbeit und Privatleben nicht mehr im Gleichgewicht war. Diese Veränderung ermöglichte mir, mehr Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Doch hat sie sich als die beste herausgestellt, die ich für meine Beziehung zu ihr treffen konnte. Ich habe mich sehr privilegiert gefühlt.

leitwolf: Sie sind einer der meistgeachteten Investoren der Welt. Wenn Sie sich anschauen, wie wir derzeit gegen die Ausbreitung des Coronavirus kämpfen, was sorgt Sie am meisten?

„Wir laufen Gefahr, dieselben Fehler zu machen, die wir in der Finanzkrise 2008 gemacht haben.“

Mohamed A. El-Erian: Die Gefahr, dass sich der kurzfristige Schaden der Wirtschaft und Gesellschaft zu einem langfristigen, strukturellen Schaden entwickelt. Wenn ich von Schaden spreche, meine ich alles: angefangen bei Liquiditätsengpässen von Unternehmen, die sich dann zu Solvenzproblemen auswachsen, Pleiten verursachen sowie strukturelle Arbeitslosigkeit auslösen, über eine gesellschaftliche Zweiteilung, da die schwächsten Gruppen der Weltbevölkerung am stärksten leiden, bis hin zu einer starken Konzentration in der Wirtschaft nach COVID-19.

leitwolf: Was können wir tun, um wieder aus dieser Krise herauszukommen?

Mohamed A. El-Erian: Vieles hängt davon ab, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen. Nicht nur unsere gegenwärtige Generation, sondern auch die nachfolgende. Wir laufen Gefahr, dieselben Fehler zu machen, die wir in der Finanzkrise 2008 gemacht haben. Damals haben wir zwar die Depression besiegt, doch ist es uns nicht gelungen, ein hohes, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, an dem alle Gesellschaftsschichten teilhaben, zu etablieren und zu sichern. Von der wirtschaftlichen Seite ist dieser Frieden nun durch drei Faktoren bedroht: geringere Produktivität, eine weniger dynamische Nachfrage und eine höhere Verschuldung.

leitwolf: Wie wird die globale Wirtschaft nach der Corona-Krise aussehen?

Mohamed A. El-Erian: Die Lieferketten der Wirtschaft werden neu zusammengesetzt werden. Weniger global, stärker fokussiert auf den Heimatmarkt. Denn die Unternehmen haben die Lektion aus der Corona-Krise gelernt und werden ihre Widerstandskraft höher priorisieren als Effizienz. Folglich machen diese neuen Lieferketten die Wirtschaft auf kurze Sicht weniger produktiv. Dies ist Teil eines Langzeittrends in Richtung Deglobalisierung. Denn die Corona-Krise ist bereits der dritte Schock in nur zehn Jahren. Die anderen beiden Schocks waren die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und der Handelskrieg zwischen den USA und China.

leitwolf: Mit Rettungspaketen greifen Staaten und Zentralbanken derzeit stark in die Privatwirtschaft ein. Welche Gefahr geht davon aus?

Mohamed A. El-Erian: Wenn Unternehmen mit Staatsgeld gerettet werden, sollte dies nach bestimmten Regeln erfolgen. Die Kernfrage ist, wer unter welchen Bedingungen mit welcher Art von Exit-Strategie gerettet wird. Stattdessen werden wir wohl am Ende vor einem Teller Spaghetti mit einem Durcheinander von Staat und Privatwirtschaft sitzen.

leitwolf: Wie wird sich die Nachfrageseite verändern?

Mohamed A. El-Erian: Auf der Nachfrageseite werden wir einen Dreiklang der Ungleichheit sehen: Ungleichheit bei Einkommen, Wohlstand und bei den Chancen. Außerdem könnte eine höhere Risikoaversion die Dynamik der Nachfrage begrenzen. All das würde von einer höheren Verschuldung in allen Teilen der Gesellschaft, Staaten, Unternehmen und Privathaushalten, begleitet.

leitwolf: Hätten wir eine Chance gehabt, die Pandemie vorauszusehen? Oder ist COVID-19 ein sogenannter schwarzer Schwan?

„Für mein Risikomanagement nutze ich Cash, keine Anleihen mit negativem Zins.“

Mohamed A. El-Erian: Es ist eher ein grauer Schwan. Wir hätten die sich vervielfachenden „Tail Risks“ – also die Gefahr hoher Verluste, ausgelöst durch ein extrem unwahrscheinliches Ereignis mit massiven Auswirkungen – besser adressieren können. Gerade in Zeiten, in denen die Wirtschaft immer gebrechlicher geworden ist. Geschwächt durch zu viele Jahre eines geringen Wirtschaftswachstums, das zudem nicht für alle Bevölkerungsschichten spürbar war, immer neue Experimente der Zentralbanken, künstliche Finanzstabilität und durch eine zu geringe Aufmerksamkeit für das nachhaltige Wohlbefinden unseres Planeten.

leitwolf: Angesichts Ihrer erfolgreichen Karriere möchte jeder gern wissen, wie Sie Ihr eigenes Geld investieren. Wie sieht Ihr persönliches Portfolio aus?

Mohamed A. El-Erian: Ich bin immer mehr zu einem Nischenspieler geworden. Und ich gehe viel taktischer vor, als ich das in der Vergangenheit getan habe. Ich nutze eher Cash als Anleihen oder die Diversifikation von Anlagen, um mein Risiko zu managen. Mir würde es schwerfallen, eine Anleihe mit einem Negativzins zu kaufen. Das bisschen Exposure, das ich noch im Aktienmarkt habe, ist in sorgfältig ausgewählten Einzelwerten investiert, die sich durch eine starke Bilanz, ausreichend Cash, ein gutes Management und eine vorteilhafte Positionierung für die Zeit nach der Krise auszeichnen.

leitwolf: Wie sind Sie im Kreditmarkt engagiert?

Mohamed A. El-Erian: Ich bin bestrebt, mehr Geld in strukturierte oder notleidende Kredite umzuschichten. Ich bin in ein paar Startups investiert und nutze Opportunitäten, um direkt in der Realwirtschaft engagiert zu sein. Auch wenn ich mein Geld global anlege, ist das Gros meines Vermögens im amerikanischen Kapitalmarkt investiert. Verglichen mit den anderen Regionen der Welt sind die USA in dieser Phase des Zyklus die sicherere Wette.

leitwolf: Nach all den Jahren, in denen Sie für das Vermögen Dritter verantwortlich waren, und angesichts des anspruchsvollen Marktumfeldes: Fühlen Sie eine gewisse Erleichterung, dass Sie nur noch für Ihr eigenes Vermögen Verantwortung übernehmen müssen?

Mohamed A. El-Erian: Ja sicher. Ich habe das Privileg, dass ich keinen Kunden habe, der von mir eine Rendite von 4 bis 5 % erwartet. Ich kann mit den institutionellen Investoren mitfühlen. In diesem Marktumfeld Investitionsentscheidungen zu treffen, ist eine sehr, sehr schwierige Aufgabe. Große Unternehmen fahren nur auf Sicht und geben keine Gewinnprognosen mehr ab. Zahlreiche Unternehmen haben sich vorsorglich noch schnell mehr Geld gesichert, indem sie teilweise mehr Anleihen ausgegeben haben. Und das, während sich die Ertragssituation verschlechtert und die Bonitätsherabstufungen durch Ratingagenturen einer Lawine gleichen.

leitwolf: Was bedeutet das für Investoren?

Mohamed A. El-Erian: Investoren müssen mit einer stark verringerten Sichtweite umgehen. Ihr Reiseziel steht nicht mehr fest. Es bestimmt sich abhängig von Dauer und Art ihrer Reise. Zusammengefasst resultieren daraus erhebliche Unsicherheiten an den Finanzmärkten, was erwartete Renditen, Korrelationen und Volatilität angeht.

leitwolf: Wie sollten sich Investoren auf die Welt nach der Corona-Krise vorbereiten?

Mohamed A. El-Erian: Vor allem sollten sich Investoren bei der amerikanischen Zentralbank für deren Hilfe bedanken und die daraus resultierende Erholung an den Märkten dafür nutzen, mehr Qualität in ihr Portfolio zu bringen. Sie sollten das auf drei Arten tun: Erstens sollten sie Unternehmen und Staaten mit schwachen Bilanzen gegen solche austauschen, die über ein dickes Cashpolster verfügen, deren kurzfristige Verschuldung überschaubar ist und die, sofern möglich, einen positiven Cashflow haben. Zweitens sollten sie Unternehmen verkaufen, die sich in einer Nach-Krisen-Welt nicht voll erholen werden, und stattdessen solche kaufen, die von voraussichtlich dauerhaften Trends profitieren werden. Drittens sollten sie Kapital verfügbar haben, um Opportunitäten zu nutzen, die sich möglicherweise verstärkt in den Kreditmärkten aufgrund eines großen, aber reversiblen Marktversagens auftun werden. Ich denke hier an strukturierte sowie notleidende Kredite.

leitwolf: Wie tiefgreifend sollte dieser Portfolio-Check sein?

Mohamed A. El-Erian: Investoren sollten jede einzelne Position ihres Portfolios prüfen. Diese Aufgabe ist mühsam, aber notwendig. Nur so können sie ihr Verlustrisiko durch Unternehmens- oder Staatspleiten senken und sich gleichzeitig die Möglichkeit sichern, von weiteren Fed-Hilfen zu profitieren. Die meisten Fehler können Investoren wieder wettmachen bis auf einen – und das ist ein Zahlungsausfall.

„Investoren müssen mit einer stark verringerten Sichtweite umgehen.“

leitwolf: Wann können wir einen maßgeblichen Aufwärtstrend an den Märkten erwarten?

Mohamed A. El-Erian: Dieser wird sich nur einstellen, wenn wir auf der medizinischen Seite Fortschritte machen und die Ursache sowie die Art der Verbreitung des Coronavirus besser verstehen. Dann können wir Infizierte besser behandeln und die Immunität der Bevölkerung erhöhen.

Ein Verfechter der Meritokratie

Mohamed A. El-Erian tritt sehr bescheiden auf. Doch äußert er seine Ansichten deutlich und bestimmt – mit leiser Stimme. Dank seiner erfolgreichen Karriere bei PIMCO galt er als einer der finalen Kandidaten für die Ämter des Vizechefs der amerikanischen Notenbank Federal Reserve und des Präsidenten der Weltbank. Als Sohn eines Ägypters und einer Französin weiß er, was es heißt, anders zu sein. In einem Interview sprach er über eine sehr ernüchternde, aber auch wichtige Erfahrung in seinem Leben: Im Internat in England war El-Erian der einzige Ausländer. In seinem Jahrgang war er einer von zwei Schülern, die eine Zusage der Oxbridge-Universitäten (Oxford und Cambridge) erhalten hatten. Am „Speech Day“ – dem Tag, an dem besondere Leistungen gewürdigt werden – gab der Internatsleiter stolz bekannt, dass ein Schüler es nach Cambridge geschafft habe. El-Erians Zusage erwähnte er mit keinem Wort. Damals schwor sich El-Erian, sich durch solche Erfahrungen nicht von seinem Weg abbringen zu lassen. Er glaubt daran, dass sich Leistung am Ende durchsetzt.

leitwolf: Abgesehen von der sorgfältigen Sichtung ihres Portfolios: Wie sollten Investoren ihre Kapitalanlagen verwalten?

Mohamed A. El-Erian: Die meisten von ihnen leben immer noch in einer 60-zu-40-Welt. Will heißen: 60 % ihres Portfolios sind in Aktien investiert, die restlichen 40 % in festverzinslichen Anlagen. Investoren sollten sich an für sie neue Bereiche des Kapitalmarktes heranwagen, indem sie nach und nach Teile ihres Vermögens anders anlegen. Wenn sie weiter ihre traditionellen Ansätze verfolgen und auf konventionelle Weisheiten hören, fehlt ihnen die notwendige Resilienz und Agilität.

leitwolf: Herr El-Erian, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Ab Oktober dieses Jahres steht Mohamed A. El-Erian als Präsident dem Queens’ College der Cambridge University vor, an der er selbst studiert hat. Seine erste Festanstellung, seit er PIMCO im Jahr 2014 verlassen hat. Für seine neue Aufgabe zieht der heute 61-jährige Star-Investor nach Großbritannien. Der Allianz und Gramercy Funds Management bleibt er als Berater erhalten. Bei PIMCO war El-Erian Vorstandsvorsitzender sowie gemeinsam mit dem legendären Anleiheinvestor Bill Gross Chief Investment Officer des Fixed Income-Managers. El-Erian kam 1999 zu PIMCO. Seine Zeit dort unterbrach er nur für zwei Jahre, als er das Stiftungsvermögen der Harvard University verantwortete (2006–2007). Seiner Karriere in der Privatwirtschaft gingen 15 Jahre beim Internationalen Währungsfonds in Washington, D. C. voraus.

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