Tüfteln und tanzen

Als Kind schraubte Tim Sweeney Rasenmäher auseinander. Heute gilt er als erfolgreichster Videospieleentwickler der Welt – und macht mit seinem Kassenschlager „Fortnite“ sogar Netflix Angst.

Von Martin Mandelartz

Wollte nicht eben noch jeder wie Netflix sein? Das Netflix des Sports (DAZN). Das Netflix des Journalismus (Apples Vision für seinen neuen News-Abo-Dienst). Das Netflix des gesprochenen Worts (dieses Ziel gab der BBC-Generaldirektor für sein Haus aus). Und nun? Fürchtet ausgerechnet Reed Hastings, also der Netflix-Chef, sein Konzern könne die Position als Role Model der globalen Unterhaltungsindustrie schon bald wieder einbüßen. Und zwar zugunsten von: Fortnite. In einem Brief an seine Aktionäre schrieb Hastings unlängst: „Wir konkurrieren mehr mit Fortnite als mit HBO – und: Wir verlieren.“

Dabei ist Fortnite gar kein Unternehmen – sondern ein Videospiel. 2,4 Milliarden Dollar hat Hersteller Epic Games im vergangenen Jahr laut Marktanalysen damit umgesetzt. Das liegt zwar unter den Erlösen, die Netflix 2018 mit seinen sämtlichen Serien, Filmen und Dokumentationen weltweit umgesetzt hat (4,2 Milliarden Dollar), ist aber nicht mehr weit entfernt. Wie „DIE ZEIT“ kürzlich schrieb, haben mehr als 200 Millionen Menschen schon mindestens einmal Fortnite gespielt, rund 80 Millionen spielen es sogar regelmäßig. Auch diese Zahlen brauchen die Relation zu Netflix nicht zu scheuen. Der Streamingdienst hat knapp 140 Millionen Kunden.

Kein Wunder also, dass Tim Sweeney, der Gründer von Epic Games und Kopf hinter Fortnite, in der nächsten Forbes-Liste einen gewaltigen Sprung nach vorn machen dürfte. Laut „Bloomberg“ kommt der 48-Jährige inzwischen auf ein Vermögen von gut 7 Milliarden Dollar, nachdem Epic Games im Zuge der jüngsten Finanzierungsrunde auf eine Bewertung von 15 Milliarden Dollar veranschlagt wurde. Wobei: Bemisst sich das Lebenswerk Sweeneys überhaupt am Geld? Oder eher an einer anderen Frage: Kann es sein, dass er der Mann ist, der die Gaming-Branche endgültig vom Rand der Unterhaltungsindustrie in deren Zentrum führt?

Figuren aus dem Videospiel Fortnite „Battle Royal“, Season 5.

Vom Rasenmäher zur Spielekonsole

Tim Sweeney kommt 1970 in Potomac, einer Kleinstadt im Bundesstaat Maryland, auf die Welt. Die Eltern? Amerikanische Mittelschicht. Die beiden Brüder? Zehn und 16 Jahre älter als er selbst. Der kleine Tim, so stellt sich bald heraus, ist ein Tüftler. Mit fünf oder sechs Jahren baut er den Rasenmäher seiner Eltern auseinander, weil er verstehen will, wie so ein Ding funktioniert. Wäre er zehn Jahre früher geboren, so wird Sweeney später in einem Interview – mit ein bisschen Koketterie – erzählen, „dann wäre ich vermutlich Automechaniker geworden“. So wird er zu einem Kind der gerade hereinbrechenden Computer-Ära.

Seine ersten Videospiele entdeckt er mit neun oder zehn. Sie werden damals, Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre, aber noch nicht daheim am PC gespielt, sondern in Gaming-Hallen, von denen eine auf Tims Schulweg liegt. Er wirft einen „Quarter“ ein, um Space Invaders oder einen Nintendo-Shooter namens Space Firebird auszuprobieren. So zumindest erzählt Sweeney es 2012 in einem langen, sehr persönlichen Interview mit dem Fachjournalisten Stephen Totilo. Was den Jungen von Gleichaltrigen unterschied: Ihn interessierte weniger das Gaming als das Gerät. Oder anders ausgedrückt: Im Grunde war der Spielautomat für ihn nichts anderes als der Rasenmäher: „In diesem Alter hatte ich auch schon die ersten elektronischen Geräte auseinandergenommen. Darum verstand ich, dass dies relativ einfache Hightechgeräte waren, die von Menschen programmiert wurden.“

Schon bald bekommt Tim Sweeney die erste Heimkonsole, einen Atari 2600. Seine Freude hält sich jedoch in Grenzen. Verglichen mit den Automaten aus der Spielhalle handelt es sich um „eine miese Maschine“, die meisten Spiele sind „zu einfach, um mein Interesse zu wecken“. Es ist aber nicht nur die banale Aufmachung, die ihn stört. Zeitlebens wird ihm Spielen als solches wohl nur mäßig Spaß bereiten. In Stephen Totilos Porträt über Sweeney heißt es: Ja klar, er hat herumgedaddelt, aber bis heute, sagt er, habe er nur zwei Spiele wirklich zu Ende gespielt, nämlich „Doom“ und „Portal“. […] „Sonic“? „Super Mario“? Hat er beides probiert, aber nur für ein paar Stunden. „Ich habe immer so lange gespielt, bis ich wusste, was die Spiele machen und wie sie es machen. Und dann habe ich angefangen, die Spiele selbst zu programmieren.“

Seine erste Firma gründete Sweeney mit Anfang 20

Mit Programmieren allein wird freilich niemand zum Milliardär. Sweeney ist Anfang 20, als er im Keller seiner Eltern seine erste Firma gründet. Zunächst heißt sie Potomac Computer Systems, bald benennt er sie um in Epic MegaGames, klingt besser. Das erste Spiel, das er entwickelt, ist zunächst noch kein Verkaufshit (im Schnitt erhält er vier bis fünf Bestellungen pro Tag) – aber: Es beinhaltet bereits eine kleine Revolution: Sweeney versieht sein Action Game „ZZT“ nämlich mit einem sogenannten Level Editor und einer eigenen Skriptsprache. So kann sich der Spieler, nachdem er ein Level bewältigt hat, weitere eigene Spielwelten erschaffen. Das Tool, mit denen Spiele normalerweise entwickelt werden (also: die Skriptsprache), wird bei Sweeney plötzlich selbst zum Spiel. „Diese Idee, verbunden mit der Idee, dass jeder da draußen mithilfe des Editors seine eigenen Games entwickeln kann, wird damals zur Kernphilosophie von Epic“, erläutert Fachjournalist Totilo.

200 Millionen Menschen haben schon mindestens einmal Fortnite gespielt.

Tim Sweeney – sein Vermögen wird auf rund 7 Milliarden Dollar geschätzt.

Schon mit dem nächsten Spiel, einem sogenannten Sidescroller namens „Jill of the Jungle“, folgt dann ein erster kommerzieller Durchbruch. Zuvor hat Sweeney analysiert, warum ihm mit „ZZT“ zwar ein Achtungserfolg, aber noch kein Verkaufshit geglückt ist. Das Resultat seiner Überlegungen: „Wer ‚ZZT‘ mochte, der tat dies, weil er das Gameplay und die Rätsel schätzte und sich für die Grafik nicht groß interessierte“, so Sweeney. Wenn er also ein breiteres Publikum erreichen wollte, dann musste er mehr Wert auf Optik und Anmutung legen, heutzutage würde man vielleicht sagen: auf die Customer Experience. „Jill of the Jungle“ jedenfalls ist grafisch auf der Höhe der Zeit, auch weil er sich bei dieser Entwicklung bereits von einem kleinen Team unterstützen lässt. „Mit dem zweiten Spiel kamen plötzlich Tag für Tag 20 bis 30 Bestellungen herein. Das bedeutete richtig viel Geld damals, immerhin war ich zu der Zeit noch auf dem College.“

Der Erfolg von „Jill of the Jungle“ spricht sich herum in der Branche. Talentierte Programmierer und Designer kündigen bei deutlich größeren Wettbewerbern, weil sie lieber mit dem aufstrebenden College Boy zusammenarbeiten wollen, einer davon ist ein gewisser Mark Rein, der vom legendären Spielehersteller id Software zu Epic MegaGames wechselt – und dem Top-Management bis heute angehört. Was Rein anfangs am meisten überraschte: wie sehr sich der vermeintliche Computernerd Sweeney auch für das Geschäftliche interessierte. In Totilos großem Porträt wird Rein wie folgt zitiert: „Als ich ihn das erste Mal sah, las er den ‚Harvard Business Review‘. Er hatte Leute in seinem Keller, die an einer einfachen Montagelinie arbeiteten, um Kopien seiner Spiele zu packen.“

Durchbruch mit der „Unreal Engine“

Und dann kommt 1993. Der Rivale id Software bringt „Doom“ auf den Markt, eines der berühmtesten Videospiele aller Zeiten – und der Beginn einer neuen Ära, weil es sich bei „Doom“ um keinen Sidescroller mehr handelt, also um Spiele, bei denen der Spieler seitlich aufs Geschehen blickt, sondern stattdessen um 3-D.

Sweeney ist nicht der Mann, der’s erfunden hat. Aber er ist der, der die revolutionäre Wucht von 3-D als einer der Ersten versteht. Epic MegaGames hat in der Zwischenzeit ein paar kleinere Spiele auf den Markt gebracht, keine Flops, aber auch keine Hits. Sweeney merkt, dass seine Firma jetzt einen Kracher landen muss, wenn sie den Anschluss halten will. Es beginnen: die Arbeiten zu „Unreal“, einem futuristischen Ego-Shooter, der 1998 – also erst nach mehrjähriger Entwicklung – auf den Markt kommen wird. Das wichtigste Gaming-Magazin jener Zeit, „Next Generation“, gestaltet sein Cover einfach nur mit einem Screenshot des Spiels. „Schlicht, weil ‚Unreal‘ so gut aussah“, so Experte Totilo. Ein Ritterschlag.

Der eigentliche Triumph des „Unreal“-Projekts liegt jedoch in einer genialen Idee, die Sweeney während der Projektarbeiten gekommen war. Zur damaligen Zeit ist es in der Branche üblich, jedes neue Spiel quasi wieder von null an zu entwickeln. Sweeney, Mitte 20 mittlerweile, sieht hierin eine Verschwendung von Ressourcen. Jahrelang hat er kaum selbst programmiert, sondern dies seinen Leuten überlassen, weil er sich selbst aufs Geschäft konzentrieren wollte. Nun allerdings erkennt der Unternehmer Sweeney, dass sein Unternehmen wieder den Softwareentwickler Sweeney braucht. Zweieinhalb Jahre konzentriert er sich vorrangig aufs Programmieren und entwickelt die „Unreal Engine“ – eine Plattform, auf der nicht nur das eigentliche „Unreal“ entwickelt wird, sondern die in den nächsten Jahren als Basis für viele weitere Spiele dienen soll. Masse statt Manufaktur.

Szene aus Fortnite: Ein Kämpfer sucht einen guten Platz für den Absprung.

Eigentlich sollte die „Unreal Engine“ ein Tool nur für den internen Gebrauch werden. Doch als das Unternehmen die ersten Screenshots des „Unreal“-Games veröffentlicht und im Zuge dessen auch die Nachricht von der Existenz der „Engine“ die Runde macht – da melden sich plötzlich externe Entwickler zu Wort mit der Frage, ob sie die Maschine nicht auch nutzen dürfen.

Jugendliche als Fans von Fortnite sorgen für Diskussionen.

Sweeney hat nichts dagegen, verlangt aber Lizenzgebühren. Und die sprudeln bald so üppig, dass Epic Games (wie das Unternehmen mittlerweile heißt) eine so stabile Einnahmequelle erwächst, dass man von den üblichen Zyklen eines Spieleherstellers auf viele Jahre hinaus unabhängig sein wird.

Sweeney könnte der Mann sein, der die Gaming-Branche endgültig vom Rand der Unterhaltungs-
industrie in deren Zentrum führt.

„Games as a Service“-Ansatz bringt Zeitenwende

Womit die Erfolgsgeschichte des Tim Sweeney fast schon erzählt wäre. Es folgt die „Unreal Engine 2“, danach die „Unreal Engine 3“. Aus den 90ern werden die 2000er-Jahre. Epic Games entwickelt eine Reihe weiterer erfolgreicher Spiele … Doch dann kommt es in der unternehmerischen Biografie des Tim Sweeney plötzlich zu einer erstaunlichen Parallele zum eingangs erwähnten Reed Hastings, dem Netflix-Chef. 2008, auf dem Höhepunkt der DVD-Ära, hatte Hastings das Erfolgsmodell des erfolgreichen DVD-Versandhändlers Netflix radikal umgestellt: Streaming statt Diskette. Und Sweeney? Spürt einige Jahre später, dass die Spieleindustrie vor einer ähnlichen Zeitenwende steht wie die Filmindustrie. 2012 holt er erstmals einen großen, externen Investor an Bord, nämlich den chinesischen Multikonzern Tencent – aber nicht nur des Geldes wegen. Denn Tencent hat in seinem Heimatmarkt die Spielebranche schon in den späten 2000er-Jahren mit dem „Games as a Service“(GaaS)-Ansatz revolutioniert. Dieses Bezahlmodell läuft, vereinfacht gesagt, darauf hinaus, dass der Nutzer keinen hohen Einmalbetrag für das Spiel als solches mehr bezahlt. Häufig bezahlt er sogar gar nichts mehr. Sondern: Der Umsatz kommt stattdessen aus Gebühren, die für die dauerhafte Nutzung des – ständig aktualisierten – Contents bezahlt werden.

Ob dem „Gaas“- und dem verwandten „Cloud Game“-Ansatz die Zukunft gehören, ist noch nicht ausgemacht. Aber vieles spricht dafür, dass die Gaming-Branche vor radikalen Veränderungen steht, die unter anderem dazu führen könnten, dass die Macht der großen Konsolenhersteller schwinden könnte.

Und Sweeney? Der scheint für die neue Epoche bestens gerüstet. Der gigantische Erfolg von Fortnite – die 200 Millionen Spieler sind übrigens Weltrekord – beruht nicht zuletzt darauf, dass das Spiel auf praktisch allen gängigen Nutzerplattformen gespielt werden kann, von Windows bis Playstation, von Nintendo Switch bis Xbox One, von iOS bis Android. Nicht die Giganten wie Sony, Microsoft, Apple oder Samsung geben den Ton an – sondern der Einzelkämpfer Sweeney.

„USK 12“ für Fortnite umstritten

Fortnite hat aber nicht nur glühende Anhänger. Vielen besorgten Eltern ist die Altersfreigabe von 12 Jahren ein Dorn im Auge, wird darin doch ziemlich viel herumgeballert. Sinnlose Gewalt im Kinderzimmer also? Jein. Es geht ums Überleben. Das Prinzip des Spiels ist es, dass von hundert Spielern einer übrig bleibt. Anfangs fliegt ein Schlachtenbus mit allen Mitspielern über die Insel, jeder entscheidet selbst, wo er abspringen möchte. Am Anfang haben die Spieler nichts dabei außer einer Axt, mit der sie sich Material für Schutzwände oder Treppen erarbeiten können. Später finden sie Waffen, Fallen und Heilungsgetränke in Gebäuden oder Truhen. Rund um die Insel tobt ein Sturm, nur in einem kreisförmigen Gebiet sind die Spieler sicher. Der Raum wird immer kleiner, die Zahl der Konfrontationen nimmt ständig zu. Blut fließt zwar keines: Niedergeschossene Gegner verschwinden in einem blauen Lichtkegel. Die bedrohliche Stimmung, die das Spiel mitunter erzeugt, sorgt jedoch für rege Diskussionen in Schulen, Vereinen und auf Elternabenden. Hier besteht zweifellos Nachbesserungsbedarf bei der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK).

Der französische Profifußballer Antoine Griezmann (Mitte) feiert sein Tor mit dem „Fortnite-Tanz“.

Dass Sweeney mit Fortnite nicht nur kommerzielle, sondern auch popkulturelle Geschichte geschrieben hat, zeigte sich spätestens im Sommer 2018, als in Moskau das Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Frankreich und Kroatien stattfand. Der französische Spieler Griezmann feierte sein Tor nämlich mit dem sogenannten Fortnite-Tanz – einem Triumphtanz, den es in unzähligen Varianten gibt und den Fortnite-Spieler ihre Figuren bevorzugt nach erfolgreichem Kampf aufführen lassen

Leitwolf mit Fortune

Er wirkt ein bisschen wie ein Nerd, der unscheinbare Typ von nebenan. Und dennoch ist Tim Sweeney der perfekte Gründer und CEO: Er brennt für seine Firma und Produkte, kennt die Produktion von der Pike auf und weiß, was seine Kunden wollen, weil er selbst sein bester und anspruchsvollster Kunde ist. Ein echter „Leitwolf“ eben.

Und er ist visionär: Mit seiner „Unreal Engine“ hat er Epic Games zum Durchbruch verholfen, mit der frühen Adaption des „Games as a Service“-Modells die nächste Stufe gezündet und schließlich Fortnite entwickelt, das auf allen gängigen Nutzerplattformen spielbar ist.

Was aber ist das Besondere an Fortnite? Hat es eine gute Grafik? Nein. Im Gegenteil, die Grafik ist bewusst einfach gehalten. Hat es ein neues Bezahlmodell? Nein. Andere Videospiele vorher haben sich auch schon über die Nutzung von Content finanziert. Hat es eine neue Spielidee? Jein. Der „Battle Royale“-Modus ist neu, aber auch nur eine abgewandelte Form vieler Multiplayer-Varianten.

Das Geheimnis des Erfolgs von Fortnite liegt vielmehr in der großen Aufmerksamkeit, die das Spiel durch VIPs in den Social Media erhält. Ob Glück oder geniale Vermarktungsstrategie – es erklärt den Hype, den das Spiel vor allem bei jüngeren Altersgruppen auslöst. Die Kunst für Tim Sweeney wird nun darin bestehen, den enormen Einfluss des Internets auch für die Vermarktung zukünftiger Spiele zu nutzen.

MARKUS HERRMANN,
PORTFOLIO MANAGER LUPUS ALPHA

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