Die Bedeutung von Ritualen

Von Wölfen und Menschen

Es sind minus 30 Grad an diesem Januar­morgen im Lamar Valley. Seit Stunden schon beobachte ich zwölf schlafende Wölfe. Endlich kommt Bewegung in die Gruppe. Die ersten stehen auf und schütteln sich den Schnee aus dem Fell. Dann ist das ganze Rudel wach und beginnt mit dem morgendlichen Begrüßungsritual. Die Erwachsenen lecken sich gegenseitig die Schnauzen, die Jungwölfe überfallen die Älteren und beißen sie liebevoll. Einige springen mitten in das Gewühl hinein. Überall blitzende Augen und wedelnde Schwänze. In der Forschung bezeichnen wir dies als „Rally“. Schließlich erhebt einer im Rudel die Stimme, andere fallen ein und heulen in den unterschiedlichsten Tonlagen. Der Gesang explodiert in einem grandiosen Finale, bevor die Tiere zur Jagd aufbrechen.

Eine Wolfsfamilie bestätigt sich gegenseitig immer wieder ihrer Zuneigung und ihres Respekts durch ständige Kommunikation und Rituale. Dazu gehört vor allem auch das gemeinsame Heulen.

Rituale sind auch im menschlichen Sozialverhalten von grundlegender Bedeutung. In Unternehmen, wo Menschen einen Großteil ihres Arbeitsalltags miteinander verbringen, verleihen sie Struktur, Orientierung und Sicherheit und schaffen ein Wirgefühl. Sie sind die „Rally“ der Menschen.

Durch Outsourcing und Digitalisierung gehen zunehmend Gemeinsamkeit und Vertrautheit verloren. Rituale helfen, die Gemeinschaft wieder zu stärken. Beförderungen, Verabschiedungen und Meilensteine, die früher eher still über die Bühne gingen, werden wieder zelebriert. Man feiert regelmäßig gemeinsam mit Family & Friends, bei Weihnachtsfeiern oder dem sommerlichen Grillfest. Ein Ritual wie das wöchentliche Feierabendbier oder der Casual Friday können das Miteinander stärken. Und das hilft, wenn man als Team das Beste für seine Kunden geben will.

Bei den Wölfen wird das gemeinsame Heulen übrigens nicht vom Leitwolf begonnen, trotzdem machen alle mit. Die dynamische Wirkung der „Rally“ führt dazu, dass alle ihr Bestes geben. Das Ergebnis sehe ich am Abend, als die Wölfe das nächste Ritual zelebrieren – nach erfolgreicher Jagd fressen sie gemeinsam ihre Beute.

ELLI H. RADINGER gab 1983 ihren Beruf als Rechtsanwältin auf und arbeitet seitdem als Fachjournalistin und Autorin mit Schwerpunkt Wildtiere und Natur. Einen Großteil des Jahres verbringt die Wolfsexpertin im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, um dort wild lebende Wölfe zu beobachten. Nach ihrem Spiegel-Bestseller „Die Weisheit der Wölfe“ steht mit „Die Weisheit alter Hunde“ auch das neue Buch von Radinger wieder auf der Spiegel-Bestsellerliste.
www.elli-radinger.de

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