Das BIP – ein Auslaufmodell?

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und der wachsenden Bedeutung von Nachhaltigkeit wird die Kritik am BIP immer lauter. Darüber diskutieren Prof. Dr. Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg und Dr. Götz Albert von Lupus alpha.

Redaktion Anna-Maria Borse

leitwolf: Als Wohlstandsindikator stand das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Anfang an in der Kritik. Doch warum ist es nun auch als Messgröße für die Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft zunehmend problematisch?

Prof. Dr. Thomas Straubhaar: Im Zeitalter der Globalisierung lässt sich das „Inland“ immer weniger präzise vom Ausland abgrenzen. Mit der Digitalisierung kommt dazu, dass nicht mehr nur physische Güter produziert werden, sondern losgelöst von Raum und „Inland“ vor allem auch Daten, die im Internet weltweit gehandelt werden. Das erschwert die Erfassung des BIP in ganz gravierender Weise. Ein Beispiel: Als ich mein Abitur gemacht habe, gingen meine Eltern in eine Buchhandlung und haben als Anerkennungsgeschenk ein dreibändiges Lexikon erworben – und damit das BIP in die Höhe getrieben. Heute bekomme ich bei Wikipedia diese Informationen umsonst, die auch noch kostenlos erzeugt wurden. Für etwas, das früher relevant war für die Berechnung des BIP, gibt es jetzt also kostenlose Angebote, die auch in ihrer Entstehung nicht entgolten werden.

Dr. Götz Albert: Mit der Digitalisierung bekommen Daten ein immer größeres Gewicht, diese gilt es richtig zu erfassen. Es gibt Unternehmen, die sich in Daten bezahlen lassen, dafür aber auch keine direkt messbaren Kosten haben, etwa Google. Wir als Nutzer verkaufen diese Daten nicht, wir geben sie preis. Das erscheint nicht als Position in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Der blinde Fleck durch die Digitalisierung wird immer gravierender.

leitwolf: Welche Rolle spielt die Sharing Economy?

Dr. Götz Albert: Auch der wohlstandsmehrende Effekt der Sharing Economy findet im BIP keinen richtigen Niederschlag. Es wird nur die Produktion eines langlebigen Wirtschaftsguts gemessen und vollkommen außer Acht gelassen, dass durch Sharing Economy eine viel höhere Ausnutzung stattfinden kann: Ein einmal gekauftes Auto entfaltet dann eine ganz andere Nutzenwelt. Die gemeinsame Nutzung von Produkten, etwa im Rahmen der Nachbarschaftshilfe, gab es zwar schon immer, in der neuen Plattformökonomie hat man aber ganz andere Stückzahlen. Manche Produkte haben sich außerdem in einer Art und Weise verändert, dass sie ihren eigentlichen Charakter aufgegeben haben: Früher war ein Automobil ein reines Produkt, um mobil zu sein. Heute positionieren die Autohersteller ihre Produkte auch über deren Fähigkeit, sich mit dem Internet und anderen Verkehrsteilnehmern zu verbinden – Konnektivität ist ein relevanter Wettbewerbsfaktor.

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Prof. Dr. Thomas Straubhaar: Dazu passt eine aktuelle Diskussion: Einige Nobelpreisträger unseres Fachs haben große Angst vor einer sekulären Stagnation, da die Produktivitätsfortschritte in Amerika, aber auch in Deutschland im Laufe der Zeit geringer geworden sind. Sollte jedoch kein Produktivitätsproblem vorliegen, sondern ein Messproblem, dann sind die politischen Konsequenzen völlig andere. Zum Thema veränderter Charakter von Produkten: Wenn das Auto seinen Preis verdoppelt, dann würden wir in Europa sagen, dass dies ein rein nominaler Effekt ist, real ist ein Auto immer noch ein Auto. Wenn das Auto aber nicht mehr nur ein Auto ist, sondern ein Wohlfühlgerät, dann handelt es sich um einen realen Effekt. Dieser Punkt ist in Europa nahezu vollständig vernachlässigt worden und spielt in Amerika eine ganz wichtige Rolle: die hedonische Preismessung.

leitwolf: Wie sieht es aus mit der fehlenden Erfassung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen – auch angesichts der Tatsache, dass ESG-Faktoren für Kapitalgeber eine immer größere Rolle spielen?

Prof. Dr. Thomas Straubhaar: Das hat mich schon in jungen Jahren bewegt, als es um die Grenzen des Wachstums ging – Stichwort Club of Rome. Ökologische Schäden können zum BIP-Wachstum beitragen, denken Sie an den Aufwand zur Wiederherstellung nach Umweltkatastrophen. Daher sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass ökonomisches und ökologisches Wachstum wenig miteinander zu tun haben. Dazu kommt, dass wir lange gesündigt haben, indem wir externe Kosten vernachlässigt haben. Das Schöne ist aber, dass wir wirtschaftliches Wachstum haben können – auch ohne höhere ökologische Schäden. Da helfen uns neue Technologien ganz eminent. Wenn Menschen mehr Informationen haben, machen sie hoffentlich klügere Dinge. Die Alltagserfahrung zeigt uns übrigens auch, dass es beim Wirtschaftswachstum nicht um Maximierung gehen sollte, sondern um Optimierung. Für Anleger heißt das: Diejenigen, die nur einseitig die ökonomische Rendite im Auge haben, könnten auf die Nase fallen. Unsere Untersuchungen machen auch ganz eindeutig klar, dass es sich rechnet, wenn man langfristig nachhaltig orientiert ist.

Dr. Götz Albert ist Managing Partner und CIO von Lupus alpha.

Dr. Götz Albert: Wir haben viele Kunden wie beispielsweise Pensionskassen, die einen sehr langfristigen Blick haben müssen. Diese fragen sich, was es ihnen nützt, wenn sie in diesem Kalenderjahr x % verdienen, in 20 Jahren dies aber nicht mehr verdienen können, weil sie durch die Art des Investierens die Grundlage zukünftiger Erträge zerstört haben. Deshalb legen diese Anleger großen Wert darauf, bei ihrer Kapitalanlage auch ökologische und soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Und die Empirie zeigt, dass die Rendite nachhaltiger Anlagen im Durchschnitt nicht schlechter ist – ganz im Gegenteil.

leitwolf: Das BIP ist immer noch eine wichtige Größe für wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Wie kann es dieser Rolle gerecht werden?

Prof. Dr. Thomas Straubhaar: Es ist unstrittig, dass das BIP mit all seinen Fehlern nach wie vor den wichtigsten Indikator zur Erfassung wirtschaftlicher Aktivitäten darstellt. Es ist ebenso unstrittig, dass durch Revisionen im Vier- bis Fünfjahresrhythmus ein Teil der problematischen Punkte aufgegriffen werden. Man muss auch beachten, dass sich viele Aspekte aufheben, weil beim BIP-Wachstum Veränderungen gemessen werden: Wenn wir in diesem Jahr einen Messfehler gemacht haben und machen ihn im nächsten Jahr wieder, wird er für das gemessene Wachstum zwischen den Jahren keinen substanziellen Einfluss haben. Das Problem ist aber, dass wir das BIP für so zen­tral halten. Wir sollten uns nicht dem Fetischismus der Daten unterwerfen und, weil das BIP im letzten Quartal 2018 beispielsweise um 0,2 % geschrumpft ist, schon Weltuntergangsstimmung verbreiten. Mein Plädoyer ist, dass wir uns loslösen von dieser Zahlengläubigkeit.

„Wir sollten uns nicht dem Fetischismus der Daten unterwerfen.“

leitwolf: Taugen klassische BIP-Prognosen aus Investorensicht noch als Basis für die taktische regionale Allokation?

Dr. Götz Albert: Wenn wir uns in unserem Team mit volkswirtschaftlichen Daten beschäftigen, dann nehmen wir die BIP-Entwicklung zur Kenntnis und freuen uns, wenn wir in Unternehmen in einem positiven Umfeld investieren. Doch wir haben ganz bewusst die Entscheidung getroffen, uns vom makroökonomischen Datenkranz nicht ablenken zu lassen. Es geht für uns darum, Unternehmen zu identifizieren, die besser positioniert sind als andere, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Da spielt die wirtschaftspolitische Großwetterlage nur eine untergeordnete Rolle.

Prof. Dr. Thomas Straubhaar: Historisch war es durchaus gerechtfertigt, in Länderrisiken zu denken und zu agieren. Das würde ich jedoch heute nur noch mit Blick auf die Politik tun, siehe Venezuela. Es ist extrem wichtig, dass man das BIP nicht mehr als allgemein repräsentativ für alles nimmt, was in einem Land passiert. Unabhängig von einer allgemeinen Länder- oder auch Branchenentwicklung finden Sie Perlen, mit denen Sie als Kapitalanleger großen Erfolg haben können.

Dr. Thomas Straubhaar ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Zwischen 1999 und 2013 war er außerdem Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts HWWI. Seine aktuellen Forschungsarbeiten zur Bedeutung des BIP werden gefördert von der NORDAKADEMIE-Stiftung.

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