Keine Angst vor der Konkurrenz

Von Wölfen und Menschen

In der Wolfswelt dreht sich alles um Familie, Paarungsrechte, Revier und Nahrung. Werden die Ressourcen knapp, drohen Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Rudeln. Im Interesse aller ist es dabei wichtig, eine gewisse Balance zu halten und nicht bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Wölfe können sich mit verschiedenen Taktiken durchsetzen: Im Yellowstone etwa war im letzten Winter jedes gute Wolfsrevier besetzt. Das Wolfsrudel „Mollie“ bestand aus vielen großen, kräftigen Wölfen. Sie hätten der ansässigen Wolfsfamilie leicht ihr Revier streitig machen können. Stattdessen suchte das Rudel aber eine Nische, in der die benachbarten Rudel noch nicht Fuß gefasst hatten: Es spezialisierte sich auf die schwer zu jagenden Bisons, entwickelte angepasste Jagdtechniken und musste fortan in seinem Revier keine Konkurrenz mehr fürchten.

Auch wenn es in der Familie um Paarungsrechte geht, gehen Wölfe sehr viel großmütiger miteinander um, als bisher angenommen. Der Leitwolf des Wolfsrudels „Druid“ wird mir immer in Erinnerung bleiben, nicht nur wegen seines Charismas, sondern auch wegen zwei wesentlicher Charaktereigenschaften: Er verlor nie einen Kampf und tötete niemals einen unterlegenen Gegner. Wann immer er seinen Standpunkt klargemacht hatte, bewies er, dass er ein Herz hatte, und ließ den Besiegten laufen. Näherte sich in der Paarungszeit ein anderer Wolf seiner Gefährtin, stand er auf, knurrte und starrte den Gegner nur an. Das reichte, der Konkurrent warf sich auf den Rücken und gab klein bei.

Minimale Gewalt sorgt für Harmonie und Kooperation in einer Gruppe. Ein guter Leitwolf ist in dieser Hinsicht für andere ein Beispiel. Die Wölfe folgen ihrem Anführer, weil sie sich bei ihm wohlfühlen und ihm vertrauen. Nur wer das Vertrauen der anderen gewinnt, kann wirklich Einfluss erlangen. Eine Erkenntnis, die auch Führungskräfte erfolgreicher Unternehmen für sich nutzen: Sie müssen das Vertrauen ihrer Mitarbeiter gewinnen. Sie haben die Pflicht und die Verantwortung, ihre Machtposition zum Wohl ihres Teams einzusetzen.

ELLI H. RADINGER gab 1983 ihren Beruf als Rechtsanwältin auf und arbeitet seitdem als Fachjournalistin und Autorin mit Schwerpunkt Wildtiere und Natur. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist seit 1991 Herausgeberin und Chefredakteurin des Wolf Magazins. Einen Großteil des Jahres verbringt die Wolfsexpertin und Naturforscherin im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, um dort wild lebende Wölfe zu beobachten.
www.elli-radinger.de

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